3. Akteure – Handlungsfelder – Diskurse

Quelle: Thomas Höhne

3.1 Veränderungen von Staat und Politik

Wie unter dem Themenschwerpunkt „Bildungsreformen“ (2.1) bereits angedeutet, ist die Ökonomisierung ohne den (National)Staat bzw. das Nationalstaatensystem im globalen Kontext, also ohne die Globalisierung, nicht zu verstehen. Insofern sind die Strukturveränderungen, die unter den Stichworten Neoliberalismus bzw. Neoliberalisierung und Ökonomisierung diskutiert werden, auch ohne die Transformation von Staat und Politik in den letzten fünfzig Jahren nicht denkbar. Denn Staaten sind seit den 1970er-Jahren aufgrund verschiedener Krisen (Ölkrise, Wachstumskrise, Währungskrisen, Staatsverschuldung) stark unter Druck geraten und haben darauf mit einem Abbau öffentlicher Infrastruktur, Sparprogrammen und vor allem mit großflächigen Privatisierungen in unterschiedlichen Bereichen wie der Gesundheits-, Arbeitsmarkt-, Sozial- und Rentenpolitik reagiert. Dieser Entwicklung folgt mit einiger zeitlicher Verzögerung auch die Bildungspolitik. In zweierlei Hinsicht wird der klassische Nationalstaat hierbei nachhaltig geschwächt in seiner Gestaltungsmacht und Steuerungsfähigkeit: Zum einen sind ihm über eine defensive Steuerpolitik und einen internationalen Steuerwettbewerb ‚nach unten‘ durch die Mindereinnahmen immer mehr die Hände gebunden, was generell die Ausgabenpolitik betrifft und durch Instrumente wie Schuldenbremse verstärkt wird. Zum anderen steigt durch den zunehmenden Einfluss transnationaler Akteure auf globaler Ebene die Komplexität der Koordination und Steuerung politischer Aufgaben auf Seiten des Nationalstaates, der zunehmend auch mit privaten und zivilgesellschaftlichen Akteuren kooperiert, wodurch immer mehr heterogene Interessen zu berücksichtigen sind.

Transnationale Akteure als Privatisierungsaktivisten

Neue transnationale Akteure wie OECD, WTO, EU und Weltbank sind als einflussreiche Player bei der Gestaltung nationaler (Bildungs)Politiken hinzugekommen (Bloem 2016), die im Zuge der Globalisierung bis auf die lokale Ebene nationale Politiken beinflussen und auch mitbestimmen. Dies reicht von weichen Formen der Regulation durch Beratung, der offenen Methode der Koordinierung, der bildungspolitischen verbindlichen Rahmensetzungen wie im Fall des Qualifikationsrahmens und der BOLOGNA-Reformen bis hin zur Verhängung strikt konditionierter, an Bedingungen gebundener Programme der Kreditvergaben an überschuldete Länder. Die in der Regel damit verknüpften Strukturanpassungsprogramme haben nachhaltig Privatisierungen vormals staatlicher Unternehmen und Infrastrukturen sowie eine generelle Vermarktlichung als universelles politisches Reformmittel vorangetrieben.

Auch die Transnationalisierung der Bildungspolitik in den 1990er-Jahren, die mit den BOLOGNA- und PISA-Reformen ihren Höhepunkt fand, ist ohne die Verantwortungs-verlagerung ehemals nationalstaatlicher Kompetenzen auf die Ebene transnationaler Akteure nicht denkbar. International vergleichende Befunde zu den bildungspolitischen Reformen der 2000er-Jahre zeigen eine mittlerweile hohe standardisierte Gleichförmigkeit bzw. Isomorphie der angewandten ökonomischen Instrumente, politischen Steuerungsformen, Privatisierungstendenzen, Vermarktlichungsformen, unternehmerischen und managerialen Umgestaltung von Schule (Kasten 1: Die manageriale Schule). Damit verbunden sind übergreifend zu beobachtende Effekte der Verstärkung sozialer Ungleichheiten und Entmischung, der Entstehung eines globalen Bildungs- und privaten Beratungsmarktes für Bildungsdienstleistungen (z.B. die Testindustrie), einer Renaissance der Bildungsprivilegien usw. (Höhne 2018).

Kasten 1: Die manageriale Schule

„Der postwelfarist education policy complex (…) beinhaltet eine Vielzahl disparater Elemente (…). Neben den Diskursen um Auswahl und Vielfalt ist dieser Komplex von einem utilitaristischen Diskurs über Effizienz, Effektivität, Leistung und Produktivität durchdrungen (…,) während die zentrale Kontrolle über das Schulsystem durch Mechanismen wie das nationale Curriculum, nationale Prüfungen und die Standardisierung der Lehrergrundausbildung erhöht wird. Gleichzeitig soll der Markt als Instrument zur Ressourcenallokation dienen, mit dem die Ressourcen von den ‚schlecht-funktionierenden’ (unpopulären) Schulen weggenommen und den ‚gut-funktionierenden’ (populären) zugeführt werden sollen. Innerhalb der Schulen wird die effiziente Nutzung der Ressourcen verstärkt, indem den Schulleitungen die Kontrolle über die Schulbudgets übertragen wird und durch den finanziellen Anreiz der per capital- Finanzierung Ressourcen verstärkt in der Weise genutzt werden, die zu einer Verbesserung der Leistung führt (…). Eine Schlüsseltechnik des Managerialismus besteht in der Schaffung interner Märkte innerhalb der Schulen selbst, in denen die unterschiedlichen Fachbereiche untereinander um Ressourcen konkurrieren (…). Die Intensivierung der Arbeitsprozesse der Lehrer, die schulinternen Märkte und die Fokussierung auf die Examensergebnisse wirken alle zusammen gegen die Entwicklung gemeinsamer fächerübergreifender Projekte und tragen zum Rückgang des Sozialen im Schulleben bei (…).“ (Gerwitz 2003: 21-24)

Der Staat und seine Partner

Auch innerhalb der Nationalstaaten lässt sich eine nachhaltige Veränderung beobachten, denn es kommt im Zuge des Wandels von Staat und Politik zu einer Aufwertung privater und zivilgesellschaftlicher Akteure (Unternehmungen, Stiftungen), die als Partner auf Augenhöhe vonseiten der Politik deklariert und anerkannt werden. Und dies nicht nur theoretisch, sondern konkret im Rahmen von Projekten bzw. öffentlich-privaten Partnerschaften. Damit hat sich die Rolle des Staates vom zentralen und verantwortlichen Rahmensetzer zu der eines primus-inter-pares (Erster unter Gleichen) gewandelt. KritikerInnen bemängeln, dass dabei die Grenzen zwischen staatlicher und privater Verantwortung bzw. Allgemeinwohl- und Partikularinteressen zunehmend verschwimmen würden (Klausenitzer 2004). Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf die politische Bereitstellung öffentlicher Güter, die zunehmend im Zeichen neuer Partnerschaften privatisiert wird. Beobachtet wird zugleich auch ein Wandel der politischen Institutionen: Sie stehen für eine neue Phase der „Postdemokratie“, wonach demokratische Institutionen zwar formal weiter funktionieren und quasi eine demokratische Fassade aufrecht erhalten wird, hinter der aber partikulare Interessen in intransparenten und von der Öffentlichkeit abgeschotteten Prozessen durchgesetzt würden.     

Kasten 2: Public-private-Partnership (PPP)

PPP-Projekte verfolgen das Ziel, „durch eine langfristig angelegte Zusammenarbeit zwischen öffentlicher Hand und privater Wirtschaft öffentliche Infrastrukturprojekte effizienter zu realisieren als in herkömmlicher Weise (…). Weil der Staat also pleite ist, will er Deals mit der privaten Wirtschaft eingehen, um öffentliche Aufgaben zu finanzieren. Behauptet wird, dass dies jedoch keine komplette Privatisierung bedeute, sondern die Gesamtverantwortung und Steuerung bei der Öffentlichen Hand verbleibe. Konkret: Will eine Kommune oder Stadt, die in Finanznöten ist, eine neue Schule bauen oder eine vorhandene renovieren, sucht sie einen privaten Investor, der die Baukosten übernimmt. Zum Teil betreiben diese Privatfirmen die Schule auch, stellen also Hausmeister und Reinigungspersonal ein und kümmern sich um die Instandhaltung. Der Staat mietet diese Schule dann für einen vertraglich vereinbarten Zeitraum zurück, der meist mehrere Jahrzehnte umfasst, damit der private Investor gesicherte Einnahmen hat“ (Krautz 2018). Rechnungshof und Stadtkämmerer kommen demgegenüber in der Regel zu anderen Einschätzungen und heben die Kostenrisiken für die öffentliche Hand hervor. Mehrere grundlegende Probleme sind mit PPP verbunden: a) die Annahme einer Win-win-Situation, die schwer aufrechterhalten werden kann, wenn ein profitorientiertes Unternehmen Gewinne machen möchte und der Staat dafür zahlt, b) die zeitliche Verschiebung des grundlegenden Problems der mangelnden Finanzierung der öffentlichen Infrastruktur durch Sparzwang (Schuldenbremse), c) die Unkalkulierbarkeit von Zinsentwicklungen und langfristige Verschuldung der öffentlichen Hand sowie d) die mangelnde Kontrolle der Qualität der Dienstleistung durch Staat und Politik.

Öffentlich-private Partnerschaften

Christina Gericke nimmt eine bildungspolitische Einordnung der Bedeutung und Funktion öffentlich-privater Partnerschaften vor. Sie verdeutlicht, in welcher Weise Schulautonomie die Voraussetzung für eine Teilprivatisierung im schulischen Feld beinhaltet und was die Merkmale des neuen Leitbildes einer unternehmerischen Schule sind.

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Ökonomische Modernisierung des Staates

Wie erwähnt, hat sich der Wettbewerb zwischen Staaten, Institutionen und Akteuren dadurch verschärft, dass in weiten Teilen der öffentlichen Infrastruktur unterschiedliche Formen der Vermarktlichung durchgesetzt wurden, was von der Politik als Modernisierung staatlicher Institutionen und Lösung von Strukturproblemen (z.B. Staatsverschuldung) ‚verkauft‘ wurde. So sollte etwa mit dem Neuen Steurungsmodell (NSM) und mit dem Instrument des New Public Management (Stichwort) (dt. neue Verwaltungssteuerung) die staatliche Verwaltung modernisiert und auf eine sogn. output-, leistungs- und wettbewerbsorientierte Steuerung umgestellt werden (Kasten 3: Neues Steuerungsmodell (NSM), Höhne 2019). Zeitgleich wurden seit den 1990er-Jahren großflächige Privatisierungen öffentlicher Einrichtungen (Krankenhäuser, Deutsche Bahn, Schwimmbäder, Stadtwerke, Wasserbetriebe usw.) vonseiten der Politik durchgesetzt, wovon auch der Bildungsbereich ab der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre betroffen war. Ein anderes Beispiel für den föderal organisierten deutschen Bundesstaat mit den Ländern und der Kultur-/Bildungshoheit ist die Umstellung von einem jahrzehntelangen kooperativen Föderalismus (Kooperation zwischen Bund und Ländern in Sachen Bildung) durch die Föderalismusreform 2006 auf einen sogenannten „Wettbewerbsföderalismus“, mit dem die Bundesländer explizit in einen verstärkten Wettbewerb gesetzt werden sollten. Insgesamt, so lässt sich festhalten, hat sich Staat(lichkeit) seit den 1970er-Jahren vom Sozialstaat zum „Nationalen Wettbewerbsstaat“ (Hirsch 1995) verändert, in dem Nationalstaaten permanent um wirtschaftliche ‚Standortvorteile‘ ringen und in dem Rahmen ihre gesamte nationale Sozial-, Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik darauf abstellen (Höhne 2019).    

Kasten 3: Neues Steuerungsmodell (NSM)

Neues Steuerungsmodell – auch New Public Management genannt – ist das Programm der ökonomieorientierten Modernisierung von Staat, Politik und Verwaltung. Es beruht wesentlich auf der sogn. Neuen Institutionenökonomik (Proeller 2018) und lässt sich folgendermaßen beschreiben: „Eine Steuerung der Organisationseinheiten nicht über die Zuweisung von Haushaltsmitteln („es gibt x Mio. Euro für das Personal des Stadttheaters“), sondern über die (zusätzliche) Definition des erwarteten Outputs (Beispiel: „mit den zugewiesenen Haushaltsmitteln wird das Theater im kommenden Haushaltsjahr x Vorstellungen mit y Zuschauern und einer durchschnittlichen Steigerung der Sitzplatzauslastung um z % anbieten“). Das Stichwort dazu hieß „Outputorientierung“. Gleichzeitig sollen die dezentralen Organisationseinheiten die zur Erstellung des Outputs (= der Produkte) erforderlichen Ressourcen nicht mehr einzeln zugewiesen bekommen (= eine Schule sollte die Birne für den Tageslichtprojektor nicht mehr einzeln beim Schulverwaltungsrat beantragen etc.), sondern die Organisationseinheiten sollen mehr dezentrale Ressourcenverantwortung durch eigene Budgets erhalten. Damit sie diese Mittel nicht sachfremd einsetzen, muss der Output entsprechend definiert und die Einhaltung solcher Vereinbarungen im Rahmen von „Kontraktmanagement“ gesichert werden. Zusätzlich zu den drei hier genannten Elementen des NSM (= Outputorientierung, dezentrale Ressourcenverantwortung und Kontraktmanagement) ist ‚Wettbewerb‘ das vierte Element des NSM. Dazu heißt es im grundlegenden Bericht der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement: „Eine unternehmensähnliche, dezentrale Führungs- und Organisationsstruktur und (…) Outputsteuerung gewährleisten allein noch nicht, dass (…) Kommunalverwaltung seine volle Leistung auch tatsächlich erbringt. Die neue Struktur muss jetzt ‚unter Strom gesetzt werden‘. Das Mittel hierzu ist der Wettbewerb“. (https://de.wikipedia.org/wiki/Neues_Steuerungsmodell#cite_ref-1)

3.2 PISA als transnationales Großereignis der OECD-Bildungspolitik

Bei PISA handelt es sich, wie Simone Bloem in ihrer empirischen Studie zeigen konnte (Bloem 2016), um eine „Strategie“, welche die OECD als transnationaler ökonomischer Akteur seit Jahrzehnten verfolgte: mehr Markt, Wettbewerb und Privatisierung in die nationalen Bildungssysteme zu bringen. Die 1961 von den USA und westlichen Staaten gegründete OECD war ein ‚Kind der Blockspaltung‘ der 1950er/60er-Jahre zwischen kommunistischem Ostblock und den kapitalistischen westlichen Blockstaaten. Ihre Aufgabe war im Kern, die wirtschaftliche Entwicklung westlicher Staaten voranzubringen. Nach dem sogn. Sputnik-Schock 1957, wie die Reaktion westlicher Staaten auf den ersten, durch die Sowjetunion erfolgreich ins All gebrachten Sputnik-Satelliten genannt wird, wurde eine ‚Techniklücke‘ vom Westen diagnostiziert. Sie sollte zukünftig durch nachhaltigere Bildungsfinanzierung und Qualifikationssteigerung geschlossen werden, weshalb Bildung und Bildungspolitik nun in den Fokus der OECD-Politik rückten. Jedoch blieben die ökonomischen Prämissen der Organisation erhalten, nämlich primär Standards, Vorschläge und Strategien für wirtschaftliche Ziele zu erarbeiten. Daran hat sich bis heute nichts geändert, auch wenn das Themenspektrum der OECD sich systematisch erweitert hat auf viele zentrale Politikbereiche (Sozial-, Arbeitsmarkt-, Gesundheitspolitik).

Im Folgenden wird aufgezeigt, wie PISA als transnationales Kooperationsprojekt zwischen OECD und privaten Akteuren realisiert wurde (Kasten 4):

Kasten 4: PISA: Rankings, Zahlen und Skandale!

Ursprünglich wurde PISA (Programme for International Student Assessment) im Auftrag der OEDC von vier global agierenden privaten Bildungsdienstleistern der internationalen Testindustrie konzipiert und wird seit der Jahrtausendwende regelmäßig durchgeführt. Die OECD als „Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“ ist primär ein ökonomischer Akteur, dessen Ziel die Steigerung von Wachstum und besagter ökonomischer Entwicklung ist. Für Elisabeth Flitner stellt PISA eine neue Form der „pädagogischen Wertschöpfung“ (Flitner 2006) dar:

„Aus öffentlichen Schulsystemen, die im Windschatten der Ökonomie nach den Eigengesetzen staatlicher Einrichtungen funktionierten, sind inzwischen auch Felder wirtschaftlichen Handelns geworden, in denen Unternehmen beginnen, Arbeitsformen und pädagogische Beziehungen innerhalb der Schulen umzubauen, Schulsysteme in  eine Vielzahl spezifischer Märkte zu zerlegen und einer ideellen und materiellen Privatisierung zuzuführen.“

(Flitner 2006: 246)

Das seit den 1990er-Jahren politisch vorgegebene Leitbild für Bildungsorganisationen ist das Unternehmen, das mit einer zentralen strategischen Leitung ausgestattet (Management) und mittels Kennziffernsystemen ständig den eigenen Output überwacht, Kosten reduziert und Leistungen anpasst und sich in einem Dauerwettbewerb mit Konkurrenten befindet. Dieses Bild vom Markt sollte mit PISA auch auf das schulische Feld übertragen werden. Diese politisch instrumentierte Einflussnahme privater Akteure und Leitbilder auf den Bildungsbereich ist für Flitner in die umfassende Geschichte der Rationalisierung von Bildungssystemen eingebettet, nach der „staatliche und private Organisationen, die im Schulsystem tätig werden, ihre jeweils typischen Führungsprinzipien in die Schulen  übertragen“ (Flitner 2006: 246). Dies geschah in zwei Phasen: In einer ersten Phase wurden mit der staatlich-politischen Institutionalisierung des Bildungssystems in dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zunächst die bürokratischen Prinzipien wie etwa ein „elaboriertes Prüfungswesen“ auch auf das Bildungswesen übertragen, die bis in die 1990er-Jahre im Rahmen der inputorientierten Bildungssteuerung galten (z.B. Behördenhierarchie, curriculare Kontrolle). Gegenüber dieser inputgesteuerten Fachprüfung wird in der zweiten Phase seit 2000 auf die neue Form outputorientierter Tests umgestellt (Flitner 2006: 246), weshalb PISA als Katalysator einer neuen Testlogik (internationale Bildungsvergleiche, Ranking, Output, externe Qualitätsstandards) gelten kann, die sich global mit der neuen Bildungssteuerung durchsetzt. Salopp resümiert Flitner:

„Staatliche Bürokratien brachten die ‚Fachprüfung‘ in die Welt; private Unternehmen fügen den ‚Test‘ hinzu. Die standardisierte Messung von outcomes der Schule ist kultureller Ausdruck einer Verflechtung staatlicher und betriebswirtschaftlicher Führungskriterien, einer public-private-partnership, die sich in Schulsystemen weltweit etabliert“

(Flitner 2006: 246)

Die Expansion des Netwerks SchuleWirtschaft

Christina Gericke zeichnet nach, wie über das Netzwerk „SchuleWirtschaft“ seit Jahrzehnten flächendeckend öffentlich-private Partnerschaften organisiert werden. Hierbei entsteht ein ‚intermediärer Raum‘ zwischen staatlich-öffentlicher und privater Sphäre, in den partikulare ökonomische Interessen und Sichtweisen ungeschützt in den schulischen Bereich hineingelangen Ursprünglich nur für die Berufsschule gedacht, expandierte SchuleWirtschaft seit den 1990er Jahren auch zunehmend in Bereich der allgemeinbildenden Schulen, was Christina Gericke vor allem mit auf Einflussnahme problematisiert.

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Zum vollständigen Text von Elisabeth Flitner: Pädagogische Wertschöpfung. Zur Rationalisierung von Schulsystemen durch public-privatepartnerships am Beispiel von PISA.

3.3 Der Neusprech neoliberaler Bildungsdiskurse und progressiver Neoliberalismus

Ein wichtiger Indikator für Ökonomisierung ist die zunehmende Dominanz ökonomischer Begriffe, die seit zwei bis drei Jahrzehnten auch das pädagogisch-bildungspolitische Vokabular durchdringen. Ein eindrückliches Beispiel für den kaum noch zu überschauenden Neusprech ‚innovativer’ Semantiken liefert Reinhard Kreckel in einem Vortrag zur Hochschulentwicklung:

„Da beginnt es mit der Akkreditierung und geht über den Bachelor, das Benchmarking oder die Budgetierung weiter zu den Credit-Point-Systemen, zur Dienstrechtsreform, Evaluierung, Exzellenz-Clustern und Eliteuniversität, Flexibilisierung, Globalhaushalt, Hochschulmarketing, Innovation und Juniorprofessur, über Modularisierung, Profilbildung, Qualitätsmanagement, Studiengebühren bis hin zu Wettbewerbsorientierung und Zielvereinbarung.“

(Kreckel 2005: 2)

Der Kompetenz-Neusprech und sein pädagogischen Folgen

Die Rede von „Kompetenzen“ gehört seit den PISA-Reformen zum bildungs-politischen und pädagogischen Begriffsinventar. Im Interview mit Marc Fabian Buck wird die Frage diskutiert, ob bzw. inwiweit der Kompetenzbegriff auch vorher bereits ein pädagogischer Begriff war und ob er ein Indiz für Ökonomisierung darstellt. Es wird zum einen die Bedeutung von Verantwortung und das Problem einer Verantwortungsverschiebung auf das Individuum für Lernerfolge durch den Kompetenzgespräch problematisiert und zum anderen die Schwierigkeit thematisiert, Kompetenz(en) objektiv zu (be)messen. Thematisiert wird zudem der Mangel an Theorie und die Normativität des psychologisch dominierten Kompetenzbegriffs.

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Progressiver Neoliberalismus

Der neoliberale Diskurs zeichnet sich gerade nicht nur durch eine einseitig ökonomische Terminologie aus, sondern gerade auch durch die Verknüpfung mit progressiven gesellschaftlichen Leitnormen wie ‚Autonomie‘ oder ‚Emanzipation‘. Nancy Fraser hat dies anschaulich beschrieben und vom „progressiven Neoliberalismus“ (Fraser 2017) gesprochen, der aber – wie sie zeigt – vor allem ein Elitediskurs ist, um den eigenen Erfolg zu prämieren und gesellschaftspolitisch zu legitimieren. Der diskursive Prozess, der dieser ‚Umwertung der Werte‘ (Nietzsche) zugrunde liegt, ist der folgende: Die neoliberale Umschreibung und Funktionalisierung beinhalten grundsätzlich immer eine systematische Kopplung emanzipatorischer Werte wie ‚Autonomie‘ und ‚Freiheit‘ mit ökonomischen Kriterien von ‚Leistung‘ und ‚Erfolg‘. Dabei wird die ursprüngliche politische Stoßrichtung der Emanzipationssemantik gleichsam ökonomisch eingehegt und zugleich die eindimensionale ökonomische Zwecklogik kulturell erweitert. Die neue Autonomie zielt nun auf ökonomischen Erfolg mit all den Annehmlichkeiten, die der Erfolgreichen-Status sozioökonomisch mit sich bringt. Auch Werte wie ‚Kreativität‘ sind äußerst positiv besetzt, aber nur insoweit nützlich, als sie letztlich auch den eigenen ökonomischen stärken; Frauen in Führungspositionen ja, aber nur, wenn keine Renditenachteile für das Unternehmen entstehen; Nonkonformismus natürlich, aber nur, wenn er in einer entsprechenden Business-Strategie aufgeht. Entscheidend ist dabei, dass der neue neoliberal umgedeutete ‚Wert‘ der gesellschaftlichen Normen wie ‚Gleichberechtigung‘ und ‚Emanzipation‘ vor allem an ökonomischen Kriterien und weniger an der gesellschaftlich-universellen Bedeutung gemessen wird.

Historisch erklärt Fraser dies so: Seit den 1980er-Jahren wurde der „Angriff auf die sozialen Sicherungssysteme mit einer von den sozialen Bewegungen geborgten emanzipatorischen Fassade verbrämt“ (Fraser 2017: 80), deren gesellschaftspolitische Durchschlagskraft einer neuen Koalition gesellschaftlicher Eliten entsprang, die einen neuen historischen Block aus ökonomischen und kulturellen Eliten bildete: „Die Interessengruppen, die die Entfesselung der kapitalistischen Wirtschaft betrieben, fanden ihren Wunschpartner in einem meritokratischen Aufsteigerinnen-Feminismus, der den weiblichen ‚Willen zum Erfolg‘ und den ‚Sturm auf die Führungsetagen‘ propagierte« (ebd.: 81). Damit geht eine Neukonstitution des herrschenden Konsens einher, eben des erwähnten „progressiven Neoliberalismus“. Der beruhe auch teilwiese

„auf dem Bündnis ‚neuer sozialer Bewegungen‘ (Feminismus, Antirassismus, Multikulturalismus und LGBTQ) mit Vertretern hoch technisierter, ‚symbolischer‘ und dienstleistungsbasierter Wirtschaftssektoren (Wall Street, Silicon Valley, Medien- und Kulturindustrie etc.). In dieser Allianz verbinden sich echte progressive Kräfte mit einer ‚wissensbasierten Wirtschaft‘ und insbesondere dem Finanzwesen. […] Seither bemänteln – prinzipiell für sehr unterschiedliche Ziele einsetzbare – Ideale wie Diversität und Empowerment neoliberale Politiken, die zu einer Verheerung der alten Industrien mitsamt den Mittelklasse-Lebenswelten der in ihnen Beschäftigten geführt haben“.

(ebd.: 78f.)

Die Wissenspolitik des progressiven Neoliberalismus

Christina Gericke erläutert die „Wissenspolitik“ privater Akteure und wie diese versuchen, auch curricular-inhaltlich Einfluß zu nehmen. Damit soll im Netzwerk  „SchuleWirtschaft“ für eine bestimme unternehmensnahe Ökonomie ohne kritische Perspektiven geworben werden.

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Pädagogisierter Neoliberalismus

In ähnlicher Weise, aber etwas anders akzentuiert, haben Johannes Bellmann und Florian Waldow auf die neoliberale Verknüpfung ökonomischer mit emanzipatorisch-universellen Werte hingewiesen (Bellmann/Waldow 2007) und damit die pädagogisierte Variante des Neoliberalismusdiskurses dekonstruiert. Im pädagogischen Feld könne beobachtet werden, wie technokratisch-rationalistische und reformpädagogische Argumente und Diskurselemente verbunden würden, was aber höchst ambivalent sei. In diesem Sinne sprechen sie von der „merkwürdigen Ehe zwischen technokratischer Bildungsreform und empathischer Reformpädagogik“ (Bellmann/Waldow 2007) und charakterisieren einige interessante ‚Synergieeffekte’ dieser Kombination:

„Es zeigt sich, dass die Verquickung von hypertechnokratischer Bildungsreform und emphatischer Reformpädagogik zu einem erheblichen Legitimationsgewinn der betreffenden Reforminitiativen führt, indem sie die diskursive Anschlussfähigkeit derartiger Forderungen und Initiativen maximiert und gegen Kritik aus beiden Richtungen wenigstens teilweise immunisiert. Die diskutierten Reforminitiativen sind eben nicht nur ‚neoliberal’, wie dies manchmal behauptet wird, sondern können an außerordentlich unterschiedliche Diskursstränge anschließen; dies verleiht ihnen ihre besondere Durchschlagskraft. Für die hypertechnokratischen Reforminitiativen besteht der Nutzen der Allianz mit der Reformpädagogik darin, dass derartige Initiativen hierdurch im pädagogischen Feld anschlussfähig werden. Hypertechnokratische Reformargumente werden so reformpädagogisch ‚gezähmt’ und mit moralischem Reformpathos aufgeladen. Das im pädagogischen Feld häufig vorhandene Misstrauen gegenüber aus dem Bereich der Wirtschaft stammenden Initiativen wird so ganz wesentlich reduziert. Reformplädoyers wie diese operieren dabei nicht selten mit ‚Umarmungsbegriffen‘ (…), die allgemeine Zustimmung erzeugen, weil niemand das Gegenteil ernsthaft wollen kann. Wer kann gegen die Autonomie von Schulen sein, wer gegen eine Überwindung der Stofffülle zugunsten eines Lernens an authentischen Problemsituationen? Was ist schließlich gegen die Überwindung von äußerlicher Belehrung zugunsten eines selbstgesteuerten Lernens einzuwenden?“

(Bellmann/Waldow 2007: 492)

Die treffend benannten „Umarmungsbegriffe“ wie ‚Autonomie‘, ‚Selbstorganisation‘, ‚Lebenslanges Lernen‘, ‚Lernpartnerschaften‘ oder ‚Kooperation‘ haben also eine Art Scharnierfunktion, die verschiedene semantische Referenzbereiche oder Diskursfelder übergreift und sie diskursiv miteinander verbindet. Emphatische Begriffe wie ‚Autonomie‘, die auch in der Pädagogik eine zentrale Rolle spielen, werden mit neuen betriebswirtschaftlichen Steuerungs- und Kontrollformen wie ‚Evaluation‘ gekoppelt und als ‚Emanzipation‘ der Einzelschule gegenüber staatlicher Intervention legitimiert. Wie zentral die bildungspolitische Legitimation für die Durchsetzung neuer ökonomienaher Steuerungsinstrumente für die Reform ist, machen die erwähnten Diskursfunktionen wie ‚Immunisierung gegen Kritik‘ oder Erhöhung der ‚Durchschlagskraft‘ (also Akzeptanzgewinnung und Reduzierung von ‚Misstrauen‘) durch ‚moralische Aufladung‘ deutlich. Gerade die moralisch-pathetische Aufladung ‚kalter‘ ökonomischer bzw. technokratischer Termini durch ‚warme‘ Begriffe wie Autonomie versieht den Diskurs mit einer emotiven Grundstimmung, die zu seiner Akzeptanz beiträgt. Ein anderes Beispiel für die Durchsetzung neuer Begriffe und sowie die ‚Reformulierung‘ gesellschaftlicher Ansprüche in der Berufsbildung zeigt die folgende Interviewpassage:

Neue Diskurse und Transformation der Berufsbildung

Karin Büchter schildert zunächst die Veränderungen der Berufsbildung in der Phase der Bildungsreform der 1960er Jahre sowie die danach einsetzende Kritik an der (vermeintlich) unflexiblen Berufsbildung von Seiten der Arbeitsgeber(verbände). Als Folge dieser Kritik etablieren sich neue Begriffe (z.B. ‚Kernkompetenzen), was zu neuen Sichtweisen auf Beruf und Arbeit führt. Im Reformvergleich der 1960er und 1990er Jahre werden von Karin Büchter die folgenreichen Veränderungen der Berufsbildung der 1990er Jahre dargelegt. Dazu gehören die Kritik am Beruf, eine Verbetrieblichung von Qualifikationen, die Biographisierung von Risiken, erhöhte Anforderungen an Jugendliche ganz im Sinne des Hartz IV-Prinzips ‚Fordern + Fördern‘ und die Akademisierungsdiskussion seit 2010.

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3.4 Effekte von Ökonomisierung: Entsolidarisierung, Entwertungen und autoritäre Einstellungen 

Ökonomisierende Veränderungen können in zweierlei Hinsicht dramatische Effekte für Institutionen, Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt haben:

1. Insofern ein bestimmter Grad der strukturellen Entgrenzung ökonomischer Prinzipien und Regeln erreicht bzw. überschritten wird. So haben Ute Volkmann und Uwe Schimank ein fünfstufiges Schema ökonomisierender Veränderungen in außerökonomischen Bereichen entwickelt, bei dem die Stufen der Ökonomisierung von anfänglichen Könnenserwartungen an die Akteure –  z.B. bezüglich eines effizienteren Umgangs mit Ressourcen – über Sollens- und Müssenserwartungen mit Zielfestschreibungen bis hin zur Erwirtschaftung materieller, vor allem monetärer Profite als Hauptziel reicht (Schimank/Volkmann 2008). Dies ist bei Krankenhäusern zu beobachten, die nach der Gesundheitsreform von 2007 (Fallpauschalen, Krankenhausmanagement, umfassender Wettbewerb und Monitoringsystem) einen Gewinn erwirtschaften müssen, da sie sonst von Schließung bedroht sind.
2. Wenn durch besagte ökonomistische Entgrenzung grundlegende gesellschaftliche und universelle Werte wie Gleichheit, Menschenwürde, Gerechtigkeit, Autonomie usw. entwertet oder ökonomisch umgewertet werden und dies nachhaltige Folgen für Demokratie und sozialen Zusammenhalt hat.

Dass eine entgrenzte und entgrenzende Ökonomisierung die angedeuteten dramatischen Auswirkungen auf soziale Institutionen und Normen haben kann, legen Befunde der empirischen Langzeitstudie „Deutsche Zustände“ (Heitmeyer 2012) von 2002 bis 2011 nahe. Wilhelm resümiert Ergebnisse, die in dem Zusammenhang relevant sind, folgendermaßen:

„Auf der Ebene der Individuen findet diese ihren Ausdruck in ökonomistischen Einstellungen: das heißt, soziale Beziehungen, Verhältnisse zu fremden Gruppen etc. werden ausschließlich nach ihrer Nützlichkeit, Verwertbarkeit und Effizienz bewertet (…). Schon damals – vor der Finanzkrise – meinte rund ein Drittel der Befragten, die Gesellschaft könne sich weder menschliche Fehler noch Menschen leisten, die wenig nützlich sind. Etwa 40 % waren der Ansicht, dass in unserer Gesellschaft zu viel Rücksicht auf Versager genommen wird. Zu viel Nachsicht sei in dieser Gesellschaft nicht angebracht. Schließlich hielt etwa ein Viertel moralisches Verhalten für einen Luxus, den wir uns nicht mehr leisten können (…). Fast die Hälfte der Befragten gab damals an, es gebe ‚Dinge, die wichtiger sind als die Beziehung zu anderen‘. Und beinahe drei Viertel waren der Ansicht, es sei günstiger, anderen Personen gegenüber seine tatsächlichen Absichten nicht mitzuteilen (…), auch dies aus wirtschaftlich-kalkulatorischen Gründen. Betrachtet man die statistischen Zusammenhänge zwischen ökonomistischen Einstellungen und den verschiedenen Formen von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, so fällt auf, dass die höchsten Korrelationen bezüglich jener Gruppen existieren, denen aufgrund solcher Einstellungen eine besonders geringe Nützlichkeit, Effizienz und Verwertbarkeit zugeschrieben wird: Langzeitarbeitslose, Obdachlose, Behinderte, und Fremde.“

(Heitmeyer 2018: 130–132)

Vor allem Langzeitarbeitslose stachen nach Heitmeyer aus den Befunden heraus, denen die Hälfte der Befragten 2007 zuschrieb, dass sie „nicht wirklich daran interessiert (seien), einen Arbeitsplatz zu finden“ (ebd.: 133) – dies zwei Jahre nach der Einführung der Hartz-IV-Reformen 2005. Im Jahr 2022 befeuert dieses (neo)liberale Muster der Abwertung nicht produktiver, arbeitsloser Menschen auch die Ablehnung des sogn. Bürgergeldes, welches das rigide sanktionsorientierte und existenziell verunsichernde Hartz IV ablösen sollte. Mit Heitmeyer lässt sich das dahinterliegende politische Motiv formulieren: Es sollten der „soziale Druck“ und das „Angstniveau“ (ebd.: 133) vor dem sozialen und ökonomischen Absturz der Leistungsberechtigen aufrechterhalten werden, um sie zur Arbeitsaufnahme jedweder Art ‚zu bewegen‘. Nicht umsonst stand im Zentrum der Argumentation die Rede von der ‚Schaffung falscher Anreizsysteme‘ durch das Bürgergeld.

Quelle: Thomas Höhne

Dieses Beispiel zeigt deutlich, dass der von etablierten politischen AmtsträgerInnen offensiv vorgetragene Legitimationsdiskurs mit den ökonomischen und scheinbar harmlosen Vokabeln von ‚Anreiz‘ und ‚Anreizsystem‘ eigentlich ein ‚Straf- und Sanktionsdiskurs‘ ist. Hierbei wird Arbeitslosen nicht (mehr) die geringste ‚Autonomie‘ zugebilligt, von der ansonsten bei Vollerwerbstätigen immer die Rede ist, die noch ‚beschäftigungsfähig‘ sind, wie das neoliberale Konzept des selbst zu verantwortenden Beschäftigungserfolgs in der deutschen Übersetzung des engl. „employability“ lautet (Kasten 5: Employability/Beschäftigungsfähigkeit). Zudem zeigt er, wie legitim und normal es gesellschaftlich und politisch geworden zu sein scheint, gesellschaftlich machtlose Gruppen ohne Lobby und ohne wirtschaftlichen Einfluss pauschal abzuwerten und sie ‚unter Verdacht, Beobachtung und stete Gängelung‘ durch ein Sanktionssystem zu stellen. Dass dies mittlerweile ein relativ breiter gesellschaftlicher Konsens ist, der durch ökonomistische Einstellung nachhaltig verstärkt worden ist, ist ein Verdienst der Langzeitstudie.         

Kasten 5: Employability/Beschäftigungsfähigkeit

Katrin Kraus hat in einer Studie zum Konzept der Beschäftigungsfähigkeit kritisch auf die damit verbundene Verkürzung hingewiesen: „Beschäftigungsfähigkeit wird vorwiegend als Eigenschaft und Leistung der Einzelnen betrachtet, sich neuen und sich ständig verändernden Anforderungen flexibel anzupassen. Daraus resultiert eine Tendenz, die Verantwortung für das Gelingen oder das Scheitern von beruflicher Integration alleine den Individuen zuzuschreiben. ‚Beschäftigungsfähigkeit’ greift damit als Leitbild einer zukünftigen Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik zu kurz“. Kritisiert wird, „dass ein derartiges Verständnis den Beitrag der Unternehmen sowie die Relevanz sozioökonomischer Bedingungen und politischer Rahmensetzungen außer Acht lässt. Der aktuelle Diskurs um Beschäftigungsfähigkeit verengt zudem die politischen Bemühungen um Chancengleichheit und die Schaffung egalitärer Strukturen darauf, dass jeder und jede Einzelne fit gemacht wird für den Wettbewerb und so zum wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens und der Volkswirtschaft beitragen kann“ (Friedrich Ebert Stiftung 2008: 3).

Neue Passungsverhältnisse

Karin Büchter erläutert den Zusammenhang von Beschäftigungsfähigkeit und dem veränderten Zugang zu Bildung und Arbeit.

Die Semantik der „Beschäftigungsfähigkeit“ steht für eine Individualisierung von Verantwortung für den eigenen Berufs- und Bildungserfolg. Dies beinhaltet eine Neu(an)passung des Verhältnisses von Individuum und Bildungsinstitutionen. In diesem Kontext wird diskutiert und der Frage nachgegangen, in welcher Weise der Passungsbegriff die Schul- und Berufsbildung seit den 1990er Jahren zu dominieren beginnt. Damit ist die stärker flexibilisierte Variante der klassischen pädagogischen Frage angesprochen, wie ein ‚matching‘ zwischen dem gesellschaftlichen Individuum (einschließlich seiner sozialen Merkmale!) und der Bildungsinstitution hergestellt werden kann.

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