Begabung

Einleitung

Im spannungsreichen Dualismus von Natur und Umwelt nimmt Begabung eine – auf den ersten Blick – vermittelnde Funktion ein. Begabung, Talent, Neigung oder Intelligenz sind alltagssprachliche Begriffe und wissenschaftliche Konstrukte, die stets auch immer den Gedanken von naturgegebenen Anlagen beinhalten. Insofern geht mit diesen Begriffen immer das Problem einer Naturalisierung von Fähigkeiten einher. Damit können nicht nur möglicherweise soziale Einflüsse unterschätzt, sondern auch institutionelle Selektionsprozesse gerechtfertigt werden. So läuft auch die in den Schulgesetzen und Bildungsplänen der Länder verankerte Leerformel des „begabungsgerechten Förderns“ Gefahr, sogenannte Begabungsunterschiede zu legitimieren und die gesellschaftliche Akzeptanz für soziale Ungleichheit zu erhöhen. Ferner wird damit die meritokratische Illusion eines unmittelbaren Zusammenhangs von natürlicher Begabung und Leistung aufrechterhalten, wodurch gesellschaftliche Eliten ihre höherrangige Position legitimieren.

Begabung zwischen Determinismus und Dekonstruktion

Historisch spielte Begabung „zunächst eine dominante Rolle im Recht, gewann aber spätestens seit dem 18. Jahrhundert die engere Bedeutung von Ausstattung mit Talenten und Geistesgaben“ (Heid 2004: 146, Hoyer/Weigand/Müller-Opplinger 2013: 36 ff.), wobei damit auch eine religiöse Konnotation von Begabung als göttliches Geschenk verbunden ist. J. A. Comenius betrachtete Begabung noch als unentfaltete Anlage eines jeden und erblickt darin eine Möglichkeit der Pädagogik, durch Didaktik „die erfolgreiche systematische Förderung des Menschen“ zu verwirklichen (Gruschka 1988: 62). Erst der Intelligenzdiskurs, der mit der Durchsetzung eines positivistischen Wissenschaftsverständnisses in der Psychologie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eine wissenschaftliche Dominanz erfuhr, verhalf dem Begabungskonzept zu einer gesellschaftlichen Popularität, während der breite wissenschaftliche Hochbegabungsdiskurs mit dem 6.Weltkongress der World Council for Gifted and Talented Children 1985 begann, d.h. auf ein bildungspolitisches Ereignis ersten Ranges zurückzuführen ist (Hoyer/Weigand/Müller-Opplinger 2013: 77). Eine gesellschaftlich breite und kritische Diskussion um den Begabungsbegriff entstand in den 1960er Jahren in Verbindung mit dem Strukturplan und dem Gutachterband „Begabung und Lernen“ von Heinrich Roth. Begabung wurde hierbei nicht als determinierendes statisches Konstrukt begriffen, sondern mit starkem pädagogischen Optimismus verbunden, allen Kindern eine „wissenschaftsorientierte Ausbildung“ zu ermöglichen (Gruschka 1988: 63). Diese inklusive Lesart des Begabungsbegriffs, der die sozialen Voraussetzungen von Lernen in den Vordergrund rückte, wandte sich grundlegend gegen ein weit verbreitetes naturalisierend-deterministisches Verständnis von Begabung als ‚Anlage’, indem er Begabung auch als Ergebnis und nicht als Voraussetzung von Lernen begriff:

„Man kann nicht mehr die Erbanlagen als wichtigsten Faktor für Lernfähigkeit und Lernleistungen (=Begabung) ansehen, noch die in bestimmten Entwicklungsphasen und Altersstufen hervortretende, durch physiologische Reifevorgänge bestimmte Lernbereitschaft. Begabung ist nicht nur Voraussetzung für Lernen, sondern auch dessen Ergebnis.“ (Roth 1972: 22)

Die Idee, Begabung auf ihre sozialen Komponenten – jenseits deterministischer Annahmen – zurückzuführen, hat durchaus historisch eine Tradition und kann bis zu Friedrich Nietzsche zurückverfolgt werden. Seine These lautete, dass „von Natur Jeder den Zugang zu vielen Talenten“ mitbrächte, „aber nur Wenigen ist der Grad von Zähigkeit, Ausdauer, Energie angeboren und anerzogen, so dass er wirklich ein Talent wird, also wird, was er ist, das heisst: es in Werken und Handlungen entladet“ (Nietzsche nach Hoyer/Weigand/Müller-Opplinger 2013: 60). Begabung sei nichts anderes, „als ein Name für ein älteres Stück Lernen, Erfahrens, Einübens, Aneignens, Einverleibens (…) Der, welcher lernt, begabt sich selber“ (ebd.). Dieses Konzept des schon bestehenden sozialen Vorwissens oder ‚Vorkönnens’ des Einzelnen, das zeitlich-biographisch den institutionellen Lern- und Bildungsprozessen grundsätzlich vorangeht, hat Pierre Bourdieu etwa ein Jahrhundert nach Nietzsche als ‚Habitus‘ bezeichnet.

Aktueller Begabungsdiskurs

Das Konzept Begabung erfährt seit den 1990er Jahren eine Renaissance, da es im Sinne einer ‚Begabungsgerechtigkeit’ gegen Egalitätsvorstellungen im Bildungssystem ins Feld geführt wird. Bildungsprogrammatisch ist es nach wie vor im Schulgesetz und Bildungsplan enthalten und eng mit dem Konstrukt „Intelligenz“ verknüpft. Dabei ist

„‚Begabung’ (…) keine beobachtbare Größe, keine Substanz, sondern ein hypothetisches Konstrukt oder gar eine intervenierende Variable, die nach methodisch kontrollierten Korrespondenzregeln oder (wie praktisch sehr viel häufiger) intuitiv, mehr oder weniger unreflektiert mit beobachtbarem Verhalten eines Individuums in einen Begründungszusammenhang gebracht wird.“ (Heid 2004: 148f.)

Sichtbar wird Begabung durch (be-)wertende, hierarchisierende und selektierende Praxis der Institution Schule, durch die – pädagogisch legitimiert – entsprechende Begabungsunterschiede erst tragend und biografisch für den/die einzelne(n) Schüler_in bedeutungsvoll werden. Bereits in den 1960er Jahren wurde kritisch darauf verwiesen, dass mittels des Begabungsbegriffs soziale Privilegien – oder mit einem Ausdruck Bourdieus: kulturelles Kapital der herrschenden Elite – sozial vererbt und gesellschaftlich akzeptabel gemacht werden würden. Durch die Zuschreibung von Begabung im schulischen Kontext wird in hohem Maße das individuelle soziale Schicksal festgelegt, indem der Glaube an die Existenz wie den Mangel der eigenen Begabung vermittelt wird. Begabung findet sich institutionell verankert in Bildungsplänen und Schulgesetzen, wie sich exemplarisch im Bildungsplan für die Grundschule 2004 aus Baden-Württemberg zeigt:

„Die öffentliche Schule schuldet ihm jede zur Erfüllung dieses Rechts nötige Hilfe – unabhängig von Herkunft, Geschlecht, wirtschaftlicher Lage und unter ausdrücklicher Berücksichtigung seiner besonderen Begabung. Kein Kind darf fallen gelassen werden. Kein Schüler, keine Schülerin sollte die Schule verlassen, ohne wenigstens die „Ausbildungsfähigkeit“ erreicht zu haben.“ (Ministerium für Kultus 2004: 10)

Und mit Blick auf den § 88 „Wahl des Bildungswegs“ aus dem baden-württembergischen Schulgesetz heißt es:

„(3) Schüler, welche nach Begabung oder Leistung die Voraussetzungen für den erfolgreichen Besuch einer der in Absatz 2 genannten Schulen nicht erfüllen, werden aus der Schule entlassen; sie haben, falls sie noch schulpflichtig sind, eine Schule der ihrer Begabung entsprechenden Schulart zu besuchen.“ (Kultusministerium Baden-Württemberg 1983)

Richtschnur für die Bewertung von ‚Begabung’ ist die schulische Leistung und damit die ‚begabungsgerechte’ Einteilung und Überweisung auf unterschiedliche Schularten. Funktional stützt der Glaube an ein nativistisches Begabungskonzept weiter das bestehende mehrgliedrige Schulsystem, indem die Schularten als dem entsprechenden „Begabungstyp“ und damit als „begabungsgerecht“ und förderlich deklariert werden. Begabung legitimiert in diesem Sinne nach wie vor gesellschaftliche Ungleichheit und verstellt den Blick auf die sozialen Bedingungen von Lernen und Leistung.

Begabungsreserven und Hochbegabung

Der bildungsökonomische Begriff ‚Begabungsreserve’ macht den unmittelbaren Bezug zur Ökonomie deutlich:

„Es war nicht dieser pädagogische Protest, sondern das ökonomische Interesse an der […] ‚Ausschöpfung von Begabungsreserven‘, das die Bildungsreform und die Zulassung größerer Gruppen der Jugend zu ‚höherer Bildung‘ motivierte.“ (Gruschka 1988: 64)

So zeigt sich wie sehr der Begabungsbegriff an die Vorstellung einer Steigerung des Humankapitals gekoppelt ist, die in den 1960er Jahren entwickelt wurde. Die enge Kopplung von Bildung und Kapital ist seit den 1990er Jahren beobachtbar (Bank 2008), jedoch geht es mittlerweile nicht mehr um die ‚einfache Begabung’, sondern ins Zentrum der medialen und bildungspolitischen Aufmerksamkeit sind die ‚Hochbegabung’ bzw. die ‚Hochbegabten’ gerückt (Hoyer/Weigand/Müller-Opplinger 2013: 60 f). Diese Entwicklung findet ihren Ausdruck in entsprechenden Einrichtungen der Frühförderung und schulischen Hochbegabtenförderung und geht über Uni- und Eliteförderungsprogramme und Hochbegabtenbefreiung von Studiengebühren bis hin zu entsprechenden Stipendien für Hochbegabte. Neu am aktuellen Begabungsdiskurs ist auch, dass Hochbegabte mittlerweile als die eigentlichen Verlierer des als mittelmäßig apostrophierten staatlichen Bildungssystems dargestellt werden, dessen Aufgabe es sein sollte, die Spreu vom Weizen, d.h. die Masse der einfach und weniger Begabten von den Hochbegabten zu trennen. Nicht selten wird hierbei eine egalitär ausgerichtete Pädagogik als gleichmacherisch und damit als Problem ausgemacht, und der Gleichheitsbegriff durch den der Gerechtigkeit, sprich: der Leistungs- oder Begabungsgerechtigkeit ersetzt. Damit wird das ‚Mittelmaß des Durchschnitts’ zum Kernproblem eines leistungsorientierten Bildungssystems erhoben, bei dem die Leistungsstarken durch vermeintliche Unterforderung wie auch die Leistungsschwachen durch anscheinende Überforderung gleichermaßen Opfer ‚begabungsfeindlicher’ Vorstellung von (gleichmacherischer) Gleichheit sind. Denn eine solche ‚ideologische Fixierung auf Egalität’ scheint für das Ziel einer Auswahl der ‚besten Köpfe’ insofern ein Problem, als dass sie selbst zu einem ‚Begabungshindernis’ wird. An dieser Argumentation wird der genuine Zusammenhang des meritokratischen Prinzips mit dem Begabungskonstrukt deutlich, das bildungspolitisch eine antiegalitäre Stoßrichtung beinhaltet. In kritischer Perspektive ist anzumerken, dass Hochbegabung mangels theoretischer und empirischer Plausibilität als „Signalwort ohne Konzept“ (Hoyer/Weigand/Müller-Opplinger 2013: 69) bezeichnet wird, so dass sie letztendlich als abhängig von Leistung und Intelligenz definiert wird (ebd.: 72 f.).

Von kollektiven zu individuellen Begabungsreserven

Begabung legitimiert nicht nur gesellschaftliche Ungleichheit, sondern dient allgemein der Rechtfertigung von Unterschieden im Bildungssystem. Indem es den Glauben an eine behauptete meritokratische Gerechtigkeit stärkt, macht es Verlierer_innen wie auch Gewinner_innen des Bildungssystems zu eigenverantwortlichen Subjekten ihres Bildungs(miss)erfolgs – Heike Solga spricht vom ‚Stigma’, mit dem Schüler_innen durch „naturalisierende Definitionen wie Begabungsmangel, Intelligenzdefizit, Lernbehinderung“ (Solga 200): 409) etikettiert werden. Mit dieser nach wie vor wirksamen Naturalisierung bleibt auch der aktuelle (Hoch-)Begabungsdiskurs auf den ersten Blick hinter dem erreichten wissenschaftlichen Reflexionsstand zurück, der – entgegen einem statisch-deterministischen Begabungskonzept – die sozialen und institutionellen Bedingungen von ‚Begabung’ aufzuhellen versucht hatte (Roth 1972). Im Gegenteil scheint gegenwärtig die Hochbegabtenförderung zentrales Anliegen von Bildungspolitik zu sein, die ihren Ausdruck etwa in veränderten Finanzierungs- und Unterstützungsstrukturen findet (Stipendien, Erlass von Gebühren usw). Dies korreliert mit den veränderten Erwartungen von Eltern bezüglich des Bildungserfolgs ihrer Sprößlinge, denn diese geraten nicht nur allgemein mit ihren Bildungsentscheidungen unter Druck, wie empirische Untersuchungen zeigen (Borchard u.a. 2008), sondern sehen sich auch zunehmend der Gefahr ausgesetzt, die ‚individuellen Begabungsreserven’ ihres möglicherweise (Hoch-/Höher-)begabten Kindes zu vernachlässigen und ihm nicht die Optionen zu eröffnen, die gesellschaftlich und politisch mittlerweile erwartet werden. An dieser Stelle wird der neuere Kompetenzdiskurs bedeutsam, weil er den Begabungsbegriff seit den 1990er Jahren semantisch und konzeptionell überlagert, wodurch dessen Bedeutung in signifikanter Weise verändert wird. Wenn im klassischen Begabungskonzept die individuellen Fähigkeiten noch relativ statisch konstruiert waren – oftmals geknüpft an einen festen Intelligenzquotienten (vgl. Heller 1970: 55 ff.) – so werden die Fähigkeiten durch den Kompetenzbegriff nun gewissermaßen ‚flexibilisiert’. Weniger die Anlage/Umwelt- Differenz ist hierbei entscheidend, sondern der flexible Einsatz von sozial erwünschten und funktional als wertschöpfend erachteten Fähigkeiten in unterschiedlichen Bereichen. Zudem lässt sich in der Wissenschaft eine begriffliche Flexibilisierung potentiell deterministischer Begabungs- und Intelligenzkonzepte beobachten (Hoyer/Weigand/Müller-Opplinger 2013: 72 f.). So zielt etwa der Begriff ‚emotionale Intelligenz’ von Daniel Goleman nicht mehr auf ein fixes Intelligenzverständnis, sondern auf einen kompetenzorientierten „erweiterten Intelligenzbegriff“, der Fähigkeiten wie Selbstmotivation, Triebaufschub oder Reziprozität einschließt (Gelhard 2011: 98). Über den auf schulische Förderung von Fähigkeiten bezogenen alten Begabungsbegriff hinaus lässt sich im Rahmen des Kompetenzkonzepts eine Entgrenzung des Fähigkeitsdiskurses beobachten, denn Fähigkeiten können buchstäblich überall und jederzeit auch außerhalb institutioneller Lernsettings entwickelt werden. Dazu setzt der Kompetenzbegriff auf die Fähigkeit, die Kompetenzen individuell und damit selbst(verantwortlich) zu entwickeln, was eine weitere Neuakzentuierung gegenüber dem klassischen Begabungskonzept bedeutet.Mit dem Kompetenzbegriff wird also der Akzent auf die individuelle und selbstorganisierte Entfaltung bestimmter als elementar und gesellschaftlich relevant erachteter Fähigkeiten (z.B. soziale, personale, methodische Kompetenzen) gelegt, die jedermann/-frau erwerben muss. Kompetenzen und Begabung(en) sind hierbei zugleich miteinander verknüpft und verschieden voneinander. Denn alle Individuen müssen in gewisser Weise als Ergebnis von Bildung ‚kompetent’ sein, auch ‚die Begabten’, deren Begabungen ansonsten lediglich sozial nicht vermittelbare ‚Inselbegabungen’ sind. Im Gegenzug sind natürlich nicht alle Menschen gleichermaßen ‚begabt’, so dass erst die Kopplung von Begabung(en) mit Kompetenzen die Spreu vom Weizen trennt. Heinz-Elmar Tenorth erkennt drei überdauernde Dimensionen von Begabung: zum einen als „Bündnis der Wissenschaft mit einer konservativen politischen Abwehrstrategie“, durch die eine „sozial-darwinistische Umdeutung beider Komponenten, sowohl der Anlage als auch der Umwelt“ stattfände. Begabung sei folglich ein „Begrenzungsprogramm“. Zweitens: Um die in „Spannung zu einander stehenden Begriffe von Auslese und Förderung“ – zumindest oberflächlich – zu versöhnen und drittens, dass „Wissenschaft, selbst in der starken Rolle der empirischen Forschung sich zum ideologisch fixierten und wissenschaftlich korrumpierten Erfüllungsgehilfen einer konservativen Politik“ mache. (Tenorth 2007: 128–129). Im Unterschied zu diesen klassischen Einsprüchen gegenüber dem Begabungsbegriff wäre die Kritik an einem kompetenzerweiterten und flexibilisierten Begabungsbegriff zu modifizieren. Wenn auch die Einwände gegenüber dessen naturalisierenden Kern von (Hoch-)Begabung wie auch gegenüber der Legitimation von Leistungsunterschieden nach wie vor gültig sind, so ist die Kritik in zweifacher Hinsicht zu erweitern. Zum einen rückt mit dem flexibilisierten Begabungsbegriff der Topos der Selbstverantwortung und der Selbstkompetenz in den Vordergrund, durch den die Verantwortung für den Bildungserfolg primär den Subjekten auferlegt wird. Wie beschrieben, führt erst die angemessene Kopplung von Kompetenz(en) und Begabungen, die individuell zu leisten ist, zum nachhaltigen Bildungserfolg. Diese Individualisierung der Begabungsreserven steht im Kontrast zu deren kollektiver Mobilisierung in den 1960er Jahren, die auf das Leitbild der Chancengleichheit zurückging, welche nur innerhalb der Bildungsinstitutionen zu realisieren war. Seit Ende der 1990er Jahre lässt sich eine Verlagerung der Förderung von (Hoch-)Begabung in private Bildungseinrichtungen beobachten und es hat sich mittlerweile ein konkurrenter Fördermarkt um die ‚besten Köpfe’ im vorschulischen und schulischen Bereich entwickelt. Damit hängt unmittelbar der zweite Kritikpunkt am veränderten Begabungsbegriff zusammen, bei dem nach wie vor von politischer Seite aus auf die metaphorische Bedeutung der ‚Ausschöpfung’ von Begabungsreserven zurückgegriffen wird (z.B. Statistisches Bundesamt 2010: 138-149). Durch die Expansion eines privaten Marktes zur Förderung (vor-)schulischer Kompetenzen und (Hoch-)Begabungen ist eine verstärkte Polarisierung zu befürchten, bei der es zunehmend darum geht, den habituellen Vorsprung privilegierter Milieus im Bildungsbereich zu halten bzw. zu vergrößern. So sind die aktuellen Verschiebungen des Begabungsdiskurses auch auf die „offensiveren Diskussionen in Bezug auf Elitebildung und Exzellenz“ (Hoyer/Weigand/Müller-Opplinger 2013: 78) infolge der PISA-Schlappe zurückzuführen, wofür Begabung nach wie vor ein hohes Legitimationspotential beinhaltet. Damit schließt der flexibilisierte Begabungsbegriff in puncto Selektion und Legitimation an das alte Begabungskonzept an, mit dem die ‚Verschiedenheit der Begabungen’ zur Begründung von Leistungsunterschieden im mehrgliedrigen Schulsystem herangezogen wurden. Bei gleicher Funktion und veränderter Form soll der Bildungserfolg gesellschaftlicher Eliten als selbstverdient und leistungsgerecht verkauft werden.

Thomas Höhne und Martin Karcher

Literatur

  • Bank, Volker (2008): Vom Wert der Bildung. Bildungsökonomie in wirtschaftspädagogischer Perspektive neu gedacht. Bern: Haupt Verlag.
  • Borchard, Michael/ Henry-Huthmacher (et al.) (2008): Eltern unter Druck. Selbstverständnisse, Befindlichkeiten und Bedürfnisse von Eltern in verschiedenen Lebenswelten. Bonn: Lucius & Lucius.
  • Grabner, Roland/Stern, Elsbeth (2009): Begabung. In: Handwörterbuch Erziehungswissenschaft. Unter Mitarbeit von S. Andresen, R. Casale, T. Gabriel, R. Horlacher, S. Larcher Klee und J. Oelkers. Weinheim, S. 29-43.
  • Gruschka, Andreas (1988): Negative Pädagogik. Einführung in die Pädagogik mit kritischer Theorie. Wetzlar: Büchse der Pandora.
  • Heid, Helmut; Fink, Gabi (2004): Begabung. In: Dietrich Benner und Jürgen Oelkers (Hg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim [u.a.]: Beltz, S. 146–151.
  • Heller, Kurt (1970): Aktivierung der Bildungsreserven. Stuttgart: Huber.
  • Hoyer, Timo/Weigand, Gabriele/Müller-Opplinger, Victor (2013): Begabung. Eine Einführung. Darmstadt: WBG.
  • Kultusministerium Baden-Württemberg: Schulgesetz für Baden-Württemberg. SchG, vom 01.08.1983: www.landesrecht-bw.de/jportal/portal/t/w31/page/bsbawueprod.psml?pid=Dokumentanzeige&showdoccase=1&js_peid=Trefferliste&fromdoctodoc=yes&doc.id=jlr-SchulGBW1983rahmen&doc.part=X&doc.price=0.0&doc.hl=0#focuspoint.
  • Ministerium für Kultus, Jugend und Sport (2004): Bildungsplan Grundschule 2004 (Az 6512.-12 / 108 / 1): www.bildung-staerkt-menschen.de/service/downloads/Bildungsplaene/Grundschule/Grundschule_Bildungsplan_Gesamt.pdf (letzter Zugriff am 21.06.2012).
  • Mühle, G. (1971): Begabung. In: Hans Hermann Groothoff und Martin Stallmann (Hrsg.): Neues pädagogisches Lexikon. 5. Aufl. Stuttgart: Kreuz-Verlag, S. 70.
  • Roth, Heinrich (1972): Einleitung und Überblick. In: Roth, Heinrich/ Aebli, Hans (Hrsg.): Begabung und Lernen. Ergebnisse und Folgerungen neuer Forschungen. 8. Aufl. Stuttgart: Klett, S. 17-68.
  • Solga, Heike (2009): Bildungsarmut und Ausbildungslosigkeit in der Bildungs- und Wissensgesellschaft. In: Becker, Rolf (Hrsg.): Lehrbuch der Bildungssoziologie. Wiesbaden: VS-Verlag, S. 395-433.
  • Statistisches Bundesamt (2010): Sozioökonomischer Status von Schülerinnen und Schülern 2008: www.destatis.de (letzter Zugriff 29.03.2013).
  • Tenorth, Heinz-Elmar (2007): Begabung. eine Kontroverse zwischen Wissenschaft und Politik. In: Lemmermöhle, Doris/ Hasselhorn, Marcus (Hrsg.): Bildung-Lernen. Humanistische Ideale, gesellschaftliche Notwendigkeiten, wissenschaftliche Erkenntnisse. Göttingen: Wallstein, S. 117–145.

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