Bildung als öffentliches und/oder privates Gut?
Ökonomisierende Veränderungen im Feld der Bildung
Quelle: Schule muss anders / Christian von Polentz
Bildung – vom exklusiven zum inklusiven Gut … und wieder zurück?
Ist Bildung ein öffentliches oder privates Gut? Das ist keine banale Frage, denn sie betrifft im Kern die gesellschaftliche Bedeutung von Bildung. Sie wird oft als öffentliches Gut bezeichnet, die insofern von privaten Gütern abgegrenzt werden, als sie nicht allen Mitgliedern der Gesellschaft gleichermaßen zur Verfügung stehen. Bestimmte gesellschaftliche Güter wie Wasser, Energie, Infrastruktur, Gesundheitsversorgung, Schutz des Leibes und Lebens/Landesverteidigung usw. gelten als grundlegend für die Versorgung der Bevölkerung.
Sie werden daher auch als Kollektivgüter bzw. öffentliche Güter bezeichnet, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Es darf a) keine Rivalität oder Konkurrenz im Konsum bestehen und b) niemand von der Nutzung ausgeschlossen werden. Beide Merkmale treffen auch auf Bildung zu mit sehr praktischen Konsequenzen. Denn alle Formen und Institutionen von Bildung, ob Elementar- oder Grundbildung, allgemeine oder berufliche Bildung sowie Fort- und Weiterbildung müssen potenziell für alle offenstehen – im Unterschied zu privaten Gütern (z.B. Kleidung, Auto, Landbesitz, Eigentumswohnung, Bücher), von denen Individuen oder Gruppen vom Konsum, der Nutzung und Inanspruchnahme – etwa durch Konkurrenz oder wegen des Mangels an eigenen Ressourcen (Geld, Information) – potenziell ausgeschlossen werden können. Dieses Verständnis von öffentlichen Gütern respektive Bildung fußt zum einen auf öffentlicher Versorgung bzw. einem öffentlichen Versorgungsauftrag, der einzig durch den Staat gewährleistet werden kann. Allgemein und bezogen auf das gesamte Spektrum der Sicherstellung öffentlicher Güter wird auch von Daseinsvorsorge gesprochen, die historisch unabdingbar mit dem modernen Nationalstaat verbunden ist. Zum anderen haben BürgerInnen einen rechtlichen Anspruch auf die Versorgung mit öffentlichen Gütern, die in der Regel Verfassungsrang haben und eng mit universellen Menschenrechten verknüpft sind. Öffentliche Güterversorgung und Infrastruktur sind gleichsam die materielle Voraussetzung für ein menschenwürdiges Dasein.
Historische Entwicklung
Moderne öffentliche Bildungssysteme seit dem 19. Jahrhundert gründen auf universellen Prinzipien wie Gleichheit, Zugang zu Bildung für alle, gerechte Bildungschancen, Leistungsgerechtigkeit, Möglichkeiten des Erwerbs, der Entwicklung und der Vermittlung grundlegender Fähigkeiten. Diese Prinzipien verbürgen zugleich die Unabhängigkeit bzw. eine Autonomie des Bildungssystems – auch wenn sie nur relativ sein kann, da es von bildungspolitischen Rahmenbedingungen wie öffentlicher Finanzierung, Lehr-/Bildungsplänen, Schulgesetzen usw. abhängig ist.
Historisch wurde das öffentliche Bildungssystem vor allem gegenüber privater Bildung und feudalen Bildungsprivilegien durchgesetzt (z.B. Hauslehrerprivileg, privilegierter Zugang aufgrund von Stand und Vermögen, exklusive Bildungsreise). Bildung wandelte sich in dieser Phase der Bildungsexpansion und zunehmender Chancengleichheit seit dem 19. Jahrhundert vom exklusiven Gut für wenige, zumeist materiell begüterte und sozial bevorrechtigte aus Adel und Bürgertum, zu einem inklusiven Gut für potenziell die gesamte Bevölkerung. Und dies zunächst für den Bereich der Grundbildung zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Weimarer Schulkompromiss) bis zur weiterführenden Bildung im Kontext der Bildungsreformen der 1960er-Jahre. Aus der Sicht inklusiver Bildung stellt daher der Abbau von Bildungsprivilegien mit der Institutionalisierung egalitärer Prinzipien zunächst einen unhintergehbaren historischen Fortschritt dar, mit dem zugleich die Autonomie der Bildung als eigenes Handlungsfeld begründbar und gesellschaftspolitisch legitimierbar ist – neben weiteren Aufgaben wie Qualifikation, Differenzierung/Selektion etc.
Staat, Ökonomisierung und Privatisierung
Die zentrale Instanz, die diese Autonomie von und Inklusion durch Bildung sicherstellt, war und ist der Staat mit seinen Institutionen, die vom Bund über die Länder bis auf die Ebene der Kommunen reichen. Jedoch lässt sich global spätestens seit den 1990er-Jahren eine folgenreiche Transformation nicht nur, aber auch der Bildungssysteme beobachten, die auch unter dem Stichwort „Ökonomisierung“ diskutiert wird. Hierbei geht es um die Übertragung ökonomischer Prinzipien wie Effizienz, Kostensenkung, Wettbewerb, Vermarktlichung usw. auf den Bildungsbereich. Dies gefährde, so argumentieren KritikerInnen der Veränderungen, die historisch errungene Autonomie des Bildungssystems, das zunehmend abhängiger werde von wirtschaftlichen Normen, Regeln und Forderungen. Und zudem veränderten sich gesellschaftlich wichtige Funktionen z.B. der Schule wie Integration und Sozialisation, da SchülerInnen einseitig und verstärkt einem Wettbewerb ausgesetzt würden. Kritisiert wird in dem Zusammenhang eine Politik der Privatisierung, die eine Rückkehr der Privilegien (Walgenbach 2017) beinhalte, was auch als „Refeudalisierung“ bezeichnet werden kann (Neckel 2010, Höhne 2021).
Die Privatisierung von öffentlicher Bildung bezeichnet also vor allem einen ökonomisch motivierten und bildungspolitisch realisierten Ab- bzw. Rückbau staatlich garantierter egalitärer Bildungsstrukturen und Institutionen zugunsten von Ordnungsstrukturen (Markt, Wettbewerb, Output usw.), die primär auf Prinzipien wie Differenzen, Ungleichheiten und Hierarchien setzen. Verbunden sind sie mit entsprechend ungleichen Zugängen zu Institutionen und Verfügung(smöglichkeiten) über Ressourcen (Zeit, Geld, Information usw.), was unmittelbare Auswirkungen auf Bildung hat.
- Bildung, Ökonomie und Ökonomisierung
Bildung und Ökonomie werden normalerweise als zwei grundlegend getrennte Bereiche verstanden. Allerdings haben sie nur auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun. Daher wird zunächst das Verhältnis von Bildung und Ökonomie unter die Lupe genommen (1.1), um danach zu erklären, was allgemein unter Ökonomisierung zu verstehen ist, und einige Aspekte der Ökonomisierung zu beleuchten (1.2). Zudem wird mit der ‚Großen Transformation‘ von Karl Polanyi ein wichtiger Ansatz referiert, mit dem Ökonomisierung als politisch durchgesetzte Expansion des Ökonomischen historisch erklärt werden kann (1.3).
Quelle: Michael Bonvalot
- Bildungsreformen
Die Veränderungen von Bildung, Institutionen und ihren Funktionen durch Ökonomisierung werden deutlich im Kontext der beiden zentralen Bildungsreformphasen nach 1945 und ihres Vergleichs: der Bildungsreformen der 1960er-Jahre sowie der Reformen seit Ende der 1990er-Jahre, die mit den beiden Stichworten PISA (2000/2001) für den Schulbereich und BOLOGNA (1999) für die Universität verbunden sind. Dieser Bildungsreformvergleich macht klar, wie einschneidend die gegenwärtigen, seit etwa 30 Jahren währenden Reformveränderungen im Bildungssystem gewirkt haben. So wird aufgezeigt, in welcher Weise Bildungsreformen generell als Treiber von Veränderungen wirken (2.1) und wie die neoliberalen (Bildungs-)Reformen der 1990er-Jahre ff. eine bildungspolitische Bruchlinie gegenüber den Reformen der 1960er-Jahre darstellen (2.2).
Quelle: Thomas Höhne
- Akteure – Handlungsfelder – Diskurse
Im Feld der Bildung gibt es ganz unterschiedliche Akteure, durch die die Ökonomisierung von Bildung vorangetrieben wird. Akteure können sowohl handlungsmächtige Instanzen und Institutionen, Organisationen oder Einzelpersonen sein, insofern sie in einem sozialen Feld mit Handlungsmacht und Einfluss ausgestattet sind. Dazu gehören nationale und transnationale politische Akteure wie die OECD, LehrerInnenverbände, Gewerkschaften (GEW) und WissenschaftlerInnen, aber zunehmend auch private und zivilgesellschaftliche Akteure wie Stiftungen, Unternehmen, UnternehmerInnenverbände usw. Staat bzw. Politik sind starken Veränderungen unterworfen, die zunächst aufgezeigt werden (3.1). Danach wird ein kritischer Blick auf PISA als transnationales Großereignis der OECD-Bildungspolitik geworfen (3.2). Anschließend wird der terminologische Neusprech neoliberaler Bildungsdiskurse beleuchtet und seine pädagogisierte und ‚progressive‘ Form herausgearbeitet (3.3). Zuletzt wird noch nach den sozialen Effekten von Ökonomisierung gefragt, die zu Entsolidarisierung, sozialer Entwertung und autoritären Einstellungen führen können, wie empirische Untersuchungen gezeigt haben (3.4).
Quelle: Thomas Höhne
- Privatisierung und Vermarktlichung
Die Privatisierung öffentlicher Güter und Dienstleistungen hängt unmittelbar mit Formen der Vermarktlichung zusammen. Vermarktlichung, also die Etablierung von Marktstrukturen in außerökonomischen Bereichen, bildet damit ein zentrales politisches Instrument von Ökonomisierung. Zunächst wird der Blick auf unterschiedliche Formen von Privatisierung geworfen (4.1) sowie der Frage nachgegangen, ob und inwieweit Bildung ein ‚räuberisches Privileg‘ darstellen darf (4.2). Eingebettet ist die verstärkte Privatisierung zudem in die finanzielle (Selbst-)Entmachtung des Staates, die mit einer weltweiten Stärkung des privaten Kapitals einhergeht (4.3). Schließlich wird eine für den Schulbereich zentrale Form der Vermarktlichung vorgestellt: Quasi-Märkte, die nicht rein preis- und geldbasiert sind, sondern über Wahlentscheidungen von Eltern und SchülerInnen für bestimmte Schulen realisiert und bildungspolitisch hergestellt werden (4.4).
Quelle: Thomas Höhne
- Theorien, Kritiken, Narrationen
Der Ökonomisierungsbegriff wird in der Regel kritisch verwendet, um deutlich zu machen, dass mit der Übertragung ökonomischer Instrumente auf den Bildungsbereich eine für die Gesellschaft folgenreiche Verschiebung von Normen sowie eine Gefährdung der Autonomie und Unabhängigkeit von Bildung zu befürchten sind. Dies wird anhand wissenschaftlicher Diskurse und ihrer narrativen Implikationen betrachtet. Zunächst wird ein Blick auf unterschiedliche Theorien zur Ökonomisierung geworfen (5.1), um dann die Möglichkeiten und Grenzen der damit verbunden Ökonomisierungskritiken (5.2) auszuloten. Danach wird den Narrationen und Gegennarrationen im Ökonomisierungsdiskurs auf den Grund gegangen, verbunden mit der Frage, ob der Staat als Gegner/Feind ‚der Ökonomie‘ anzusehen ist (5.3).
Quelle: Antigoni Ntonti
- Glossar und Literaturliste
In dieser Sektion wird ein Glossar mit vertiefenden Texten zu zentralen Begriffen des Ökonomisierungsdiskurses (z.B. Kompetenz, Bildungsreformen, lebenslanges Lernen) zur Verfügung gestellt, auf die in den Texten an passenden Stellen auch immer wieder mit „Stichwort“ verwiesen wird; darüber hinaus findet sich hier eine Literaturliste mit den Titeln und der Literatur, die in den Texten genannt sind bzw. verwendet wird.
Quelle: Antigoni Ntonti
Die Weitläufigkeit des Ökonomisierungsdiskurses – am Beispiel von Publikationen
Der Ökonomisierungsbegriff bezieht sich auf eine Vielzahl grundlegender Strukturveränderungen und Diskurse. Dies zeigen die folgenden Veröffentlichungen und Untersuchungen zur Ökonomisierung in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern: