Autonomie

Einleitung

Die bildungspolitische Forderung nach Autonomie steht nicht erst seit den 1990er Jahren im Mittelpunkt der Bildungspolitik. Als ein zentraler Begriff der Aufklärung zielt Autonomie auf die Mündigkeit, Emanzipation und Selbstbestimmung des Menschen ab. Mit Blick auf Bildung verteidigte Humboldt seinerzeit sowohl die individuelle Autonomie des Bildungssubjekts als auch die Autonomie der Bildungsinstitutionen gegenüber den Eingriffen des Staates. Dieser bildungstheoretischen Maximalformel steht aber die staatliche Gewährleistungspflicht von Bildungsautonomie – als politische und gesellschaftliche Minimalformel für Autonomie – gegenüber, wie sie im Grundgesetz Art. 7, Abs. 1 verkörpert ist: Der gesellschaftliche Bildungsauftrag ist demgemäß nur dann erfüllbar, wenn das gesamte Schulwesen unter staatlicher Aufsicht steht. Danach ist der Staat die einzige legitime Instanz, die das notwendige Maß an Autonomie gewährleisten kann, indem etwa die Finanzierung der Bildungsinstitutionen sicher gestellt und der gleichberechtigte Zugang für alle zu den Bildungsinstitutionen ermöglicht wird.

Die Widersprüchlichkeit ‚gewährter Autonomie’

Die staatlich-custodiale Funktion in Bezug auf Bildung ist freilich ambivalent, denn als Garant des öffentlichen Schulsystems kommt der Staat auch seiner Funktion als Kontrolleur nach, durch welche die Schulautonomie ihrerseits immer auch eingeschränkt ist. In dieser Spannung von Abhängigkeit und Unabhängigkeit drückt sich die Widersprüchlichkeit einer staatlich gesicherten Autonomie aus, der alle staatlichen Bildungsinstitutionen ausgesetzt sind. In ideologiekritischer Perspektive haben Pierre Bourdieu und Jean Claude Passeron die Autonomie von Bildung in Frage gestellt. Sie sprechen von einer „Illusion der Neutralität“ (Bourdieu/Passeron 1971: 210) und heben die relative Autonomie des Bildungssystems hervor. Hierbei würden soziale Ungleichheiten im Bildungssystem fortgeschrieben und pädagogisch legitimiert. Damit widersprechen sie grundlegend kompensatorischen Annahmen, die auf der Prämisse einer grundlegenden Autonomie des Bildungssystems fußen und den Glauben an einen individuellen Aufstieg durch Leistung nähren.

Drei historische Varianten von Autonomie

Fasst man in historischer Perspektive die Autonomie von Bildung als regulative Idee auf, können drei Varianten unterschieden werden:

a) Die liberale Position des neuhumanistischen Bildungsidealismus (klassischer politischer Liberalismus) geht von einem sich selbst umfassend bildenden, autonomen Subjekt sowie von einer Autonomie des Bildungsprozesses aus, der durch den Staat zwar ermöglicht, aber nicht direkt beeinflusst werden könne bzw. solle. Wilhelm von Humboldt hat in diesem Sinne eine historische Staatskritik formuliert und die ‚Grenzen der Wirksamkeit des Staates’ herausgestellt. Freiheit und Unabhängigkeit des Bildungswesens sollte der Staat garantieren, aber nicht kontrollieren, da nur in der Autonomie Bildungsprozesse gelingen könnten (vgl. von Friedeburg 1992: 54 f.). Hieran wird die Paradoxie des antistaatlichen Impulses des politischen Liberalismus deutlich. Der neuhumanistische Bildungsidealismus versuchte diesen Widerspruch zu minimieren, indem er die Autonomie des Bildungssubjekts und die institutionelle wie inhaltliche Unabhängigkeit der höheren Bildung als Kern von Bildung herausstrich, die von staatlichen Zugriffen unberührt bleiben (sollten). Die Autonomie von Universitäten wird von Humboldt so begründet: „Er (der Staat, T.H.) muss im Ganzen von ihnen nichts fordern, was sich unmittelbar und geradezu auf ihn bezieht, sondern die innere Überzeugung hegen, dass, wenn sie ihren Endzweck erreichen, sie auch seine Zwecke und zwar von einem viel höheren Gesichtspunkt aus erfüllen, von einem, von dem sich viel mehr zusammenfassen lässt und ganz andere Kräfte und Hebel angebracht werden können, als er in Bewegung zu setzen vermag (…) Er muss sich eben immer bewusst bleiben, dass er nicht eigentlich dies bewirkt, noch bewirken kann, ja, dass er vielmehr hinderlich ist, sobald er sich hineinmischt, dass die Sache an sich ohne ihn unendlich besser gehen würde (…)“ (Wilhelm von Humboldt, 1810/1964: 256 – 260).

b) Die wirtschaftsliberale Position mit dem Akzent auf ökonomischem Erfolg (Wirtschaftsliberalismus) geht davon aus, dass Bildung vor allem individuell durch Leistung als nützliches bzw. praktisches Gut erworben wird. Das Leitbild ist der (männliche) Bourgeoise, dessen wirtschaftlicher Erfolg allein auf individueller Leistung beruht. Historisch ist ‚der Markt’ gemäß dieser bürgerlichen Vorstellung der wirtschaftliche und zugleich politische Ort, auf dem sich der Gedanke des persönlichen Verdienstes und der Leistung gegen die feudale Privilegienordnung durchsetzen lässt. Insofern ist der liberale Bildungsdiskurs auch in dieser Hinsicht ambivalent, weil er auf der einen Seite die individuelle Freiheit und die persönliche Leistung gegen die Privilegien einer sozialen Gruppe verteidigt, aber auf der anderen Seite auch blind ist gegenüber sozialen und geschlechtsspezifischen Ungleichheiten. Denn er unterstellt natürliche und individuelle Begabungen, Leistungen sowie Begabungs- bzw. Leistungsunterschiede als einzig gültiges Autonomieprinzip. Dies gilt für den Kräftebegriff Humboldts in gleichem Maße wie für den Leistungsbegriff wirtschaftsliberaler Vorstellungen, die beide von einem vorsozialen Individuum mit einer Art natürlichen Ausstattung und ‚Kompetenzen’ ausgehen, die ausschließlich individuell-intrinsisch zu entwickeln und nicht äußerlich formbar sind. Zudem wird der ökonomienahen, auf einen Beruf zielenden ‚praktischen’ Bildung ein Primat zugesprochen, worin ihre gesellschaftliche Nützlichkeit erachtet wird. Darin unterscheidet sich der wirtschaftsliberale Bildungsbegriff von Humboldts Konzeption, der gerade in der unspezifischen Allgemeinbildung die Voraussetzung für einen autonomen Bildungsprozess erblickt.
c) Die republikanisch-revolutionäre Position stellt universelle Freiheits- und Gleichheitsforderungen in den Vordergrund, wie sie im Kontext der Französischen Revolution artikuliert wurden. Dadurch wird zum ersten Mal historisch ein allgemeines Menschenrecht auf Bildung verfassungsrechtlich formuliert und in der Einführung einer gemeinsamen Grundschule praktiziert (Citoyen, Bildung als Menschen- und Bürgerrecht). Im deutschen konservativen Bildungsstaat dauerte es bis zum Weimarer Schulkompromiss von 1920, bis eine verpflichtende gemeinsame Grundschulzeit aller Bürger politisch durchgesetzt werden konnte.

Die pädagogische Staatskritik nach 1945 im Kontext der Bildungsreform der 1960er Jahre stellte vor allem die bürokratische Bevormundung der Schule heraus. Autonomie wird hierbei in reformpädagogischer oder geisteswissenschaftlicher Tradition als pädagogische Autonomie (‚pädagogischer Prozess’, ‚pädagogisches Verhältnis zwischen Erzieher und Zögling’) verstanden. Jedoch werden die damit verbundenen Ambivalenzen und Widersprüche nicht reflektiert, die sich aus der Figur eines staatlich-öffentlich alimentierten Schul- und Hochschulsystems ergeben, das gleichzeitig die Autonomie gewährleisten soll. Hellmut Becker spricht etwa von der ‚verwalteten Schule’, die er bereits Mitte der 1950er als ‚bürokratisch übersteuert’ charakterisierte und Horst Rumpf diagnostizierte eine ‚administrative Verstörung der Schule‘.

Autonomie als Steuerungsinstrument im Zeichen (neo-)liberaler Staatskritik

Seit den 1990er Jahren haben sich die Diskursfronten in entscheidender Weise verändert. Gehörte die Kritik der staatlich-bürokratischen (Über-)Steuerung von Schule zum klassischen Repertoire der Pädagogik, so wird sie heute von bildungspolitischen Akteuren aufgenommen, um den Rückzug des Staates aus dem Bildungsbereich zu legitimieren – mit dem paradoxen Effekt, dass Pädagog_innen zunehmend zum Verteidiger des Staates werden, der die Autonomie von Bildungsinstitutionen gewährleisten soll. Mit dem Rückzug pädagogischer Staatskritik tritt nun eine pädagogische Ökonomisierungskritik stärker hervor, bei der die Ökonomie die Durchdringung des Bildungssystems durch ökonomische Imperative als die größte Gefahr für dessen Autonomie erachtet wird. Mit dem Wandel der Staatskritik ist eine Individualisierung von Verantwortung beobachtbar, die gleichermaßen an den Einzelnen wie auch an Bildungsinstitutionen adressiert ist. Gemäß einem (neo-)liberalen Autonomieverständnis wird hierbei von einem Gegensatz von Individuum und Gesellschaft bzw. Individuum und Staat ausgegangen, nach dem jedes staatliche Handeln per se einen Eingriff in individuelle Freiheitsrechte und Autonomie bedeuten würde. Der Markt ist nach dieser Auffassung der einzige gesellschaftliche Ort, an dem Freiheit und Autonomie in einem ausgeglichenen Verhältnis zur individuell zu erbringenden Leistung stehen – universelle Gleichheitsforderungen können in einer solchen Perspektive nur als ‚Gleichmacherei’ wahrgenommen werden. Die staatsaverse Position hat Anfang der 1980er Jahre Margaret Thatcher zum Ausdruck gebracht, wonach es keine Gesellschaft, sondern lediglich Individuen gäbe. Empirisch lässt sich zeigen, dass es innerhalb der Pädagogik zu einer Verschiebung der Bedeutung des Autonomiebegriffs im Rahmen des Diskurses über Schulautonomie kommt. Bis Mitte der 1990er Jahre zeigt sich, dass sich ‚Autonomie’ auf die pädagogische und vor allem auf Unterricht bezogene Umgestaltung von Schule bezieht, während in der zweiten Phase ab Ende der 1990er Jahre Schulautonomie ganz wesentlich über Instrumente der Rechenschaftslegung, der Standardisierung und externen Evaluation (Schulinspektion), d.h. über Instrumente des New Public Management realisiert und legitimiert wird (Rürup/Heinrich 2007: 172-178). Bildungspolitisch wird hierbei vor allem auf die Autonomie der Einzelschule gesetzt, die sich erfolgreich entwickeln und behaupten soll. Diese Autonomie ist jedoch durch die erwähnten Instrumente der neuen Steuerung in höchstem Maße politisch reguliert. Der entscheidende Ökonomisierungseffekt liegt hierbei in der engen Kopplung von Wettbewerb und output-orientierter Leistungssteuerung, die selektionsverschärfend wirken kann. Analog zum Individualismus liberaler Bildungsvorstellungen beruhen hierbei die Leitideen autonomer und ‚am Markt’ erfolgreicher Bildungsinstitutionen auf der individualistischen Annahme, dass vor allem die einzelne Schule oder Hochschule für ihren Erfolg verantwortlich ist. Sie müsse, so die Forderung, effizient und effektiv operieren, ihre Stärken erhöhen und die Schwächen minimieren. Befunde vor allem aus der nordamerikanischen Schuleffektivitätsforschung, auf die sich in dem Zusammenhang oft berufen wird, zeigen jedoch ein ambivalentes Bild (vgl. Wissinger 2007). Ein Effekt dieser individualisierenden Sichtweise auf Schule und Hochschule ist die Vernachlässigung von Strukturfragen im Bildungsbereich wie Ungleichheit oder Diskriminierung.

Kritik am (neo-)liberalen Autonomiediskurs

Autonomie(forderungen) für Bildungsinstitutionen beinhalten nicht per se mehr Freiheit, sondern diese ist nur für den Preis einer stärkeren output-orientierten Regulierung zu erhalten. Der neoliberale Autonomiediskurs zeichnet sich daher durch eine hohe Ambivalenz von Freiheit und Regulierung aus, die strategisch zur wettbewerbsfördernden Bildungssteuerung eingesetzt wird. Mehrere Punkte sind kritisch gegen diese Form der ‚regulierten Autonomie’ vorgebracht worden (vgl. Altrichter/Rürup 2010, Radtke/Weiß 2000):

  • 1. Autonomie ist eine Ökonomisierungsstrategie, die keine pädagogischen Impulse setze. Vielmehr kommt sie einer Dezentralisierung der Mangelverwaltung gleich und führe u.a. zu einer zeitökonomischen Verdichtung von Bildung (z.B. G8). Vor allem auf der lokalen Ebene entstehen Bildungsmärkte, in denen private Bildungsdienstleister zunehmend Einfluss gewinnen und neue marktwirtschaftliche Mechanismen der Systemkoordination ins Bildungswesen eingeführt würden (Quasi-Märkte). Eine Folge der Autonomisierungspolitik ist die Differenzierung und Hierarchisierung zwischen Schulen, die ohne Ansehung ihrer differenten Ausgangslagen einem verstärkten Wettbewerb ausgesetzt werden;
  • 2. Gegenüber der Allgemeinbildung würde eine an Standards orientierte ‚Minimalbildung’ (Steiner-Ghamsi) favorisiert. Zudem verstärke sich die Fächerhierarchie (zentrale naturwissenschaftliche Fächer, Mathematik und Sprachen und periphere Fächer wie Geschichte, Sozialkunde, Musik usw.);
  • 3. Im bildungspolitischen Autonomiediskurs kommt die verfassungsrechtliche Dimension von Bildung als soziales, durch die Verfassung geschütztes, Allgemeingut nicht mehr vor. Stattdessen setzt sich ein individualisierender Blick auf Bildung, Schule und Schüler_innen durch, wodurch Ungleichheit unsichtbar gemacht würde. Sowohl die verfassungsrechtliche Dimension als auch der Aspekt der Schulstruktur werden in der Debatte ausgeblendet;
  • 4. Durch Autonomiepolitik findet eine Reorganisation der Selektionsfunktion von Schule statt, die eine Verschärfung von Ungleichheit im Bildungssystem und eine Spreizung in gute und schlechte Schulen zur Folge hat;
  • 5. In der Schule führt die institutionelle Umgestaltung (rechtliche Stärkung und Kompetenzerweiterung der Schulleiterfunktion, Abschaffung/Umgestaltung von Personalräten, Globalhaushalte) zu einer Entdemokratisierung und neuen Hierarchien und Machtformen;
  • 6. Die Autonomisierung der Schule beinhaltet eine Schwächung der Profession und unterrichtlicher Autonomie, da Lehrer_innen zunehmend a) unter Erfolgsdruck gesetzt werden und b) einem politischen Kontrollregime unterworfen werden, mit dem neue Leistungskriterien eingeführt werden, das deprofessionalisierend wirkt (Altrichter/Rürup 2010: 119 f.). Insgesamt hängt der Autonomiestatus einer Schule direkt von ihrem Erfolg ab oder anders formuliert: Schulen sind durch das Autonomiepostulat buchstäblich zum Erfolg verurteilt. Hier zeigt sich der entscheidende Wandel des Autonomiebegriffs: Aus dem Recht auf Autonomie ist eine Pflicht zur Autonomie geworden.

Thomas Höhne

Literatur

  • Altrichter, Herbert/ Rürup, Matthias (2010): Schulautonomie und die Folgen. In: Altrichter, Herbert/Maag Merki, Katharina (Hrsg.): Handbuch Neue Steuerung im Schulsystem. Wiesbaden: VS-Verlag.
  • Bourdieu, Pierre/ Passeron, Jean Claude (1971): Die Illusion der Chancengleichheit. Stuttgart: Klett.
  • Friedeburg, Ludwig von (1992): Bildungsreform in Deutschland. Frankfurt Main: Suhrkamp.
  • Radtke, Frank-Olaf/Weiß, Manfred (Hrsg.) (2000): Schulautonomie, Wohlfahrtsstaat und Chancengleichheit. Opladen: Leske+Budrich.
  • Rürup, Matthias/Heinrich, Martin (2007): Schulen unter Zugzwang – Die Schulautonomiegesetzgebung der deutschen Länder als Rahmen der Schulentwicklung. In: Altrichter, Herbert/Brüsemeister, Thomas/Wissinger, Jochen (Hrsg.): Educational Governance. Handlungskoordination und Steuerung im Bildungssystem. Wiesbaden: VS-Verlag. S. 157-184.
  • von Humboldt, Wilhelm (1792/1987): Idee zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. Stuttgart: Reclam.
  • von Humboldt, Wilhelm (1810/1964): Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin. 1810. In: Wilhelm von Humboldt, Schriften zur Politik und zum Bildungswesen, hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
  • Wissinger, Jochen (2007): Does school Governance matter? Herleitungen und Thesen aus dem Bereich ‚School Effectiveness and School Improvement’. In: Altrichter, Herbert/Brüsemeister, Thomas/Wissinger, Jochen (Hrsg.): Educational Governance. Wiesbaden: VS-Verlag, S. 105-130.

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