Bildungspolitische Reformen

Moderne Bildungsreform als Sozialreform

Die Entstehung des modernen Bildungssystems beruht im Wesentlichen auf Bildungsreformen, an deren Beginn zumeist eine Krise bzw. ein Krisendiskurs steht. Seit dem 19. Jahrhundert war dies vor allem die sogn. ‚Überfüllungskrise’ der Universitäten, nach 1945 haben Begriffe wie „Bildungskatastrophe“ in den 1960er Jahren und „PISA-Schock“ nach 2000 den Krisendiskurs zum Ausdruck gebracht. Der Ruf nach Reformen zeigte im deutschen Bildungssystem stets einen Modernisierungsbedarf an, mit dem auf Veränderungen von Politik, Kultur, Ökonomie und Gesellschaft reagiert werden sollte (vgl. Herrlitz et al 2009). Sei es, um soziale Ungleichheit auszugleichen, wie dies in den 1960er Jahren programmatisch auf der bildungspolitischen Tagesordnung stand oder – wie gegenwärtig aktuell –, um das deutsche Bildungssystem international wettbewerbsfähiger zu machen. Dadurch unterscheiden sich moderne Bildungsreformen nach 1945 noch von Bildungsreformen im 19. Jahrhundert. So sah Bismarck in staatlicher Bildungspolitik, die einen sozialen Aufstieg für alle ermöglichen sollte, eine grundlegende soziale Gefahr und sein Motto lautete: Sozialpolitik statt Bildungspolitik und nicht, wie knapp 80 Jahre später: Sozialpolitik durch Bildungspolitik. In diesem Abwehrreflex gegen die aufsteigenden ‚Bildungs-Massen’ kommt historisch der antimodernistisch-feudale Kern des „konservativen Bildungsstaates“ (Graßl 2008) zum Ausdruck, der sich in der modernisierten Variante in den ‚Begabungsunterschieden’ wiederfindet, die das mehrgliedrige Schulsystem bis heute legitimiert. Der Reformbegriff allgemein bezieht sich auf Veränderungen in unterschiedlichen Policy-Bereichen wie Sozial-, Wirtschafts- oder Bildungspolitik, die von Staat und Politik durchgeführt werden (Grammes 1997: 1296). Sie sind das Ergebnis gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen über Art und Umfang der Veränderungen, was in Deutschland an spezifischen Konfliktlinien deutlich wird:

  • Mehrgliedrigkeit oder Einheitlichkeit des Schulsystems mit hoher Selektionsrate als Kennzeichen des deutschen Bildungssystems (Herrlitz et al 2009),
  • zentrale Bildungsplanung oder dezentrale Bildungspolitik im schulischen und universitären Bereich (z.B. Föderalismusreform),
  • Leistungs- bzw. Selektionsorientierung gegenüber Gleichheits- und Integrationsforderungen, was sich u.a. in der bildungspolitischen Gestaltung niederer und höherer Bildung (Masse und Elite) ausdrückt sowie
  • die demokratische Gestaltung von Bildungsinstitutionen (Partizipation, Eliteorientierung, Inklusion). Der Begriff der Bildungsreform legt hierbei den Akzent auf die politische Dimension von Bildung.

Reformen als heiße Phasen bildungspolitischer Dauerkonflikte

Das moderne Bildungssystem stellt seit dem 19. Jahrhundert eine gesellschaftliche Arena dar, in der zentral soziale Konflikte ausgetragen und widersprüchliche Anforderungen bzw. Interessen unterschiedlicher Akteure in ein spannungsreiches Verhältnis gesetzt werden. Die antagonistische Spannung, unter der moderne Bildungssysteme strukturell stehen, wird besonders an dem elementaren Widerspruch von gesellschaftlich postulierter Gleichheit und reproduzierter Ungleichheit im Bildungssystem deutlich:

„Die Bildungspolitik ist unter allen Fachpolitiken vielleicht das sinnfälligste Beispiel dafür, wie der Staat ein kontrafaktisches Erscheinungsbild von Chancengleichheit und damit von der Klassen-Neutralität seiner eigenen Funktionen zu produzieren sucht, während doch gleichzeitig sozialer Status und Lebenschancen der Individuen an die Bewegungen einer profitgesteuerten Ökonomie gebunden bleiben. Weil die ideologischen Systemprämissen einer egalitären Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur weder offen fallengelassen noch aber im ökonomischen System selbst eingelöst werden können, übernimmt außerhalb der marktgesteuerten Verwertungsprozesse, aber zugleich in Abhängigkeit von ihnen, das öffentliche Bildungssystem die Funktion der Versöhnung dieser kontradiktorischen Bedingungen durch eine formelle Politisierung der gesellschaftlichen Verteilung von Sozialstatus und Lebenschancen“ (Offe 1975: 241)

In dieser Aussage wird die Reproduktion gesellschaftlicher (Ungleichheits-)strukturen als widersprüchliche Syntheseleistung des modernen Bildungssystems auf den Punkt gebracht. Seine heterogenen Funktionen wie Selektion und Integration/Sozialisation sind ein Indiz für die Immanenz und Permanenz unterschiedlicher Interessen, Widersprüche, Kämpfe und Machtkonstellationen im Bildungssystem als Dauerzustand, in denen Reformdiskurse historisch die konjunkturellen Hochphasen der Auseinandersetzungen darstellen. Schließlich sind die widersprüchlichen Verdichtungen und heterogenen Funktionen im Bildungssystem historisch das Ergebnis unterschiedlicher Kompromissbildungen. Reformen und deren ‚Re-Reformen’ bilden hierbei Knotenpunkte einer historischen Pfadentwicklung, die sich im Zuge der Systembildung herausgebildet hat. Daher ist eine macht- und hegemonietheoretische Perspektive auf Bildungsreformen ist wichtig, um sie nicht einseitig als rationalen Fortschritt fehlzudeuten und um die Rationalisierung und Modernisierung selbst als Diskurs gesellschaftlicher Auseinandersetzungen beschreiben zu können, durch die Bildungsreformen charakterisiert sind.

Der historische Kompromiss der Bildungsreform der 1960 Jahre…

Die Bildungsreform der 1960er Jahre stand ganz im Zeichen gesellschaftlicher Modernisierung, wofür die Reform des gesamten Bildungssystems als Voraussetzung angesehen wurde. Von entscheidender Bedeutung war hierbei die Verknüpfung mehrerer Diskurse: Meritokratische Prinzipien wie Leistung, individueller Erfolg und Verdienst wurden nicht nur mit dem egalitären Prinzip sozialer Chancengleichheit und der Mobilisierung von Bildungsreserven verknüpft, sondern diese wiederum auch mit dem demokratisch-partizipativen Bürgerrecht auf Bildung sowie mit den Begriffen Begabung und Intelligenz (von Friedeburg 1992). An dieser Diskurskonstellation ist nicht nur die Differenz von individualistisch-liberalen (Leistung, Begabung) und kollektiv-gesellschaftlichen Positionen (Recht auf Bildung, Gleichheit) erkennbar, welche Bildungsreformen historisch charakterisieren, sondern als Novum kommt die humankapitalistisch-bildungsökonomische Perspektive auf Bildung hinzu. Diese ist vor allem auf die Entwicklung der amerikanischen Humankapitaltheorie und der Bildungsökonomie in den 1960er Jahren zurückzuführen, die in dieser Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs auch in der Bundesrepublik massiv gefördert wurde. OECD und Weltbank sind seit dieser Zeit zwei zentrale Akteure einer internationalen Bildungspolitik, die primär von bildungsökonomischen Motiven bestimmt ist. Mit der sozialen und zugleich ökonomisch-technologischen Modernisierung Deutschlands in den 1960er Jahren waren auch weitreichende Hoffnungen auf eine Demokratisierung der bundesdeutschen Gesellschaft verbunden, die eine Art historischen Kompromiss in der Bildungspolitik der Nachkriegsära zwischen konservativen, liberalen und sozialdemokratischen Vorstellungen in der Bildungspolitik ermöglichte. Soziale Ungleichheit wurde vor allem als ein Modernisierungsproblem und Fortschrittshindernis wahrgenommen, was zur Folge hatte, dass die klassengesellschaftlichen und sozialen Differenzen als Bildungsproblem kodiert und damit an das Bildungssystem adressiert werden konnten. Insofern ging dieser bildungspolitische Kompromiss über den Prozess einer allgemeinen Vollinklusion deutlich hinaus, der historisch mit der Einführung und Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht im 18. Jahrhundert begann und bis zur vierjährigen gemeinsamen Grundschule im Weimarer Schulkompromiss von 1919 andauerte. Mit der Bildungsreform der 1960er Jahre konnte nun der soziale und technologische Modernisierungsrückstand in ‚sozialverträglicher’ Form durch die kontrollierte Öffnung der Bildungsinstitutionen nachgeholt werden. Doch bereits wenige Jahre später kam es zu Krisen und Strukturproblemen, die dem „kurzen Traum immerwährender Prosperität“ (Burkhart Lutz) ein jähes Ende setzten. Denn mit der wirtschaftlichen Krise in der ersten Hälfte der 1970er Jahre (Erdölkrise, steigende Preise bei sinkendem Bruttosozialprodukt), den damit einhergehenden Unsicherheiten angesichts der Strukturveränderungen in Arbeit und Produktion (neue Produktionsmodelle, veränderte Qualifikationsanforderungen) und den politischen Strukturproblemen (beginnende Staatsverschuldung, strukturelle Arbeitslosigkeit) wurde auch die Bildungsreform politisch in den Strudel verschärfter politischer Auseinandersetzungen hineingezogen und geriet ihrerseits in die Krise (z.B. Gesamtschulkontroverse, mangelnde Integration von Migrantenkindern ins Schulsystem, nach wie vor bestehende Ungleichheiten, hochschulpolitischer Doppelbeschluss 1977). Die übergreifende große gesellschaftliche Koalition in Sachen Bildungsreform begann zu bröckeln und die Auflösung des Bildungsrates 1975 markierte die Aufkündigung des schul- und hochschulpolitischen Konsens und einer bundesweiten Bildungsplanung. Von da an durchlief die bundesdeutsche Bildungspolitik in den 1980er Jahren eine Latenzphase, in der bis auf kleinere bildungspolitische Konflikte um die Verteilung der bildungspolitischen Verantwortung, im föderalen Bundesstaat im Wesentlichen die institutionelle und legitimatorische Konsolidierung der Dreigliedrigkeit des Schulsystems auf der Tagesordnung stand.

…und seine Auflösung in den 1990er Jahren

Der Ausgangspunkt der gegenwärtigen Reformphase der 1990er Jahre ff. reicht bis zu den weltweiten ökonomischen und politischen Strukturkrisen der 1970er Jahre zurück. Diese Phase ist durch eine grundlegende Veränderung von Staat und Politik gekennzeichnet, die sich neben den erwähnten Krisen vor allem auch unter dem Druck der Globalisierung vollzieht, weshalb die Politik auf regionaler und nationaler Ebene zunehmend einem Wettbewerbsregime ausgesetzt ist. Im Zuge dieser Transformation von Staatlichkeit hin zu einem „Nationalen Wettbewerbsstaat“ (Hirsch 1995) inkorporierte die Politik zunehmend ökonomische Steuerungsprinzipien und -instrumente, was die großflächige Einführung von New Public Management als zentrale Modernisierungsmaßnahme im Bereich der kommunalen öffentlichen Verwaltung und Politik belegt. Von dieser umfassenden Ökonomisierung der Politik bleibt auch das Bildungssystem nicht verschont, in dem verstärkt in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre auf ein outputorientiertes Steuerungsregime umgestellt wird.

Ökonomisierung als Bildungsreformenstrategie

Wie hoch der Faktor Wettbewerb von den politischen Akteuren als Instrument für aktuelle Bildungsreformen erachtet wird, zeigt ein Blick auf die aktuelle Föderalismusreform, bei der von einem „kooperativen Föderalismus“ auf einen expliziten Wettbewerbsföderalismus umgestellt wurde (vgl. Scharpf 2009, S. 30ff.). Die 2003 eingesetzte “Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung” war das Ergebnis eines steigenden Legitimationsdrucks auf die bundesdeutsche Politik angesichts mieser Wachstumsraten, schlechter Geburtenzahlen, unterdurchschnittlicher PISA Ergebnisse, Rekordarbeitslosigkeit usw. (Scharpf 2009: 6). Kooperation sollte auf allen bildungspolitischen Steuerungsebenen durch Konkurrenz ersetzt werden, von der man sich bildungspolitisch einen Leistungsanstieg des Bildungssystems insgesamt versprach. Die Föderalismusreform folgt der hybriden Logik einer ‚zentralisierenden Dezentralisierung’, bei der eine Politik der Schulautonomie mit einer selektiven (Re-)Zentralisierung in Form eines bildungspolitischen Kontrollregimes verknüpft wird. Wenn auch die bildungspolitische Neuakzentuierung in der Outputkontrolle besteht, so werden mit den Bildungsstandards vor allem Input- und Outputsteuerung enger aneinander gekoppelt. Bildungsreformen nach 1945 sind nicht nur eingebettet in allgemeinere Veränderungen von Staat, Politik, Ökonomie und Gesellschaft, sondern zeigen allgemein, dass die Formierung des Bildungssystems einschließlich seiner ‚Re-Formierungen’ historische Kompromissbildungen im Zeichen dauerhafter politischer Auseinandersetzungen um Bildung darstellen. Die verstärkte Wettbewerbsorientierung im gesamten Bildungssystem (Zentraltests, Evaluation, Output, Rankings), die erwähnte Mischung aus De- und Re-Zentralisierung bildungspolitischer Steuerung oder die zunehmende Privatisierung von Bildungsangeboten (private Schulen und Universitäten) sind wichtige Bausteine der bundesdeutschen Bildungsreform seit Ende der 1990er Jahre – und zugleich Indizien für die flächendeckende Ökonomisierung des gesamten Bildungssystems. Diese Systemtransformation hat viele Gründe und Ursachen: Nicht nur die Globalisierung an sich und zunehmende weltweite mediale, wirtschaftliche, soziale, politische und kulturelle Vernetzung, sondern die Transnationalisierung von Bildungspolitik führt zu einer Transformation klassischer nationalstaatlicher Parameter und Steuerungsformen – auch und gerade im Bildungsbereich. Vor diesem Hintergrund stellt etwa die Föderalismusreform einen weiteren Kompromiss in der Reihe bildungspolitischer Kompromisse dar, die den deutschen bildungspolitischen Pfad ausmachen, der in der neuen Phase ab den 1990er Jahren ff. durch eine ökonomisierende Ausrichtung charakterisiert ist. Durch die Reform werden auf der einen Seite die globalen Herausforderungen durch die Betonung des Wettbewerbs aufgenommen und zugleich die lokalen Steuerungshoheiten beibehalten und konsolidiert, wie sie sich im deutschen Bildungsföderalismus historisch eingespielt haben. Gegenüber dem historischen Kompromiss eines mehrgliedrigen Schulsystems, in dem die sozialen Privilegien mit entsprechendem bildungspolitischem Reibungsverlust in Bildungsprivilegien übersetzt werden konnten, stellen aktuelle Reformbemühungen und Veränderungen eine grundlegende Herausforderung für die eingeschlagene bildungspolitische Entwicklung dar. Dies sind nicht nur die Erfolge der Bildungsreform der 1960er Jahre wie die Egalisierung geschlechtsspezifischer oder religiöser Ungleichheiten, sondern auch die Krise der Hauptschule – eine zentrale Stütze des dreigliedrigen Schulsystems –, die international erfolgreichen Einheitsschulsysteme bei PISA und die entsprechenden bildungspolitischen Bemühungen einiger Bundesländer, vom Weg der ‚begabungsgerechten Mehrgliedrigkeit’ abzuweichen. Auch die Akademisierung der Berufsbildung deutet auf eine Zunahme des allgemeinen Qualifikationsniveaus hin. Die Qualität von Bildungssystemen scheint hierbei selbst zu einem zentralen Wettbewerbsfaktor zu werden: Die zentrale Bedeutung von Qualität in nationalen und internationalen Bildungsdiskursen, die wissenschaftlich und politisch forcierte Einführung von Bildungsstandards und flächendeckenden Evaluationen sowie der Dauercheck von Schulen durch Zentraltests sind Indizien einer systematisch vorangetriebenen Ökonomisierung von Bildung als bildungspolitische und Bildungsreformstrategie. Ob die Rechnung einer erneuten sozialen und ökonomischen Modernisierung durch ein neues, stärker auf Wettbewerb und Output orientiertes Bildungssystem aufgeht oder zu neuen Spannungen und Verwerfungen führen wird, muss sich noch zeigen.

Thomas Höhne

Literatur

  • Grammes, Tilmann (1997): Reform. In: Dieter Lenzen (Hrsg.): Pädagogische Grundbegriffe. Reinbek: Rororo, S. 1296-1302.
  • Graßl, Hans (2008): Ökonomisierung der Bildungsproduktion. Zu einer Theorie des konservativen Bildungsstaats. Baden-Baden: Nomos.
  • Herrlitz, Hans-Georg/ Hopf, Wulf/Titze, Hartmut/Cloer, Ernst (2009): Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. Eine Einführung. Weinheim/München: Juventa.
  • Hirsch, Joachim (1995): Der nationale Wettbewerbsstaat. Berlin: Edition ID-Archiv.
  • Offe, Claus (1975): Bildungssystem, Beschäftigungssystem und Bildungspolitik – Ansätze zu einer gesamtgesellschaftlichen Funktionsbestimmung. In: Roth, Heinrich/ Friedrich, Dagmar (Hrsg.): Bildungsforschung. Probleme-Perspektiven-Prioritäten (Teil 1 Deutscher Bildungsrat. Gutachten und Studien der Bildungskommission 50). Stuttgart, S. 215-252.
  • Scharpf, Fritz W. (2009): Föderalismusreform. Frankfurt am Main: Campus Verlag.
  • von Friedeburg, Ludwig (1992): Bildungsreform in Deutschland. Geschichte und gesellschaftlicher Widerspruch. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

Download als PDF