Es wird eine Demonstation gezeigt, in der Menschen für Bildung demonstrieren.

2. Bildungsreformen

Quelle: Thomas Höhne

2.1 Bildungsreformen als Treiber von Veränderungen

Bildungsreformen sind historisch die Treiber von Veränderungen im Bildungssystem, die im Wesentlichen durch politische Maßnahmen und gesellschaftliche Auseinandersetzungen bewirkt wurden. Größere bildungsreformerische Phasen finden sich nicht nur in den aktuellen Veränderungen, die mit der PISA-Schulreform und BOLOGNA-Universitätsreform verbunden werden, sondern sie gehören seit der Institutionalisierung des modernen Bildungssystems im 19. Jahrhundert zur Bildungspolitik dazu. Die preußischen Bildungs- und Schulreformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts oder die Reformen im Zeichen des sogenannten Weimarer Schulkompromisses von 1919 haben entscheidende Veränderungen, Weichenstellungen und „Bildungsrevolutionen“ vor allem im Schulsystem bewirkt:

„Die Entstehung der ‚Volksschule‘ und die Einführung der allgemeinen Schulpflicht im 19. und 20. Jahrhundert haben die Schule zu einem enormen Lernbeschleuniger, zu einer wesentlichen Produktivkraft sowie zu einem entscheidenden Wegbereiter für die Demokratisierung von Gesellschaften werden lassen. Sie garantiert im Grundsatz Lese- und Schreibfähigkeit der gesamten nachwachsenden Generation – und zwar auf einem Niveau, das durch Lernprozesse im Alltag und durch informelle Weitergabe von Generation zu Generation in dieser Breite nicht gewährleistet wäre. Diese flächendeckende Verbreitung und Verallgemeinerung von schulischer Bildung für alle Kinder und Jugendlichen kann man getrost als eine ‚erste bildungspolitische Revolution‘ bezeichnen.“

(Rauschenbach 2013)

Bildungsreformen als politisches Kampffeld

Bildungspolitik als Kampfplatz und die Reproduktion von Ungleichheit

Das Feld der Bildung ist ein gesellschaftlicher Ort, an dem soziale Konflikte ausgetragen und widersprüchliche Anforderungen bzw. Interessen in ein spannungsreiches Verhältnis gesetzt werden. Dies kommt in den bundesdeutschen bildungspolitischen Kontroversen nach 1945 besonders zum Ausdruck, in denen es um Konfliktlinien zwischen konservativer Beibehaltung von Bildungsprivilegien, Modernisierungsbedarf des Bildungswesens durch Qualifikationserhöhung, politische Forderungen nach Chancengleichheit für alle (Gesamtschule) und meritokratische, nach individueller Leistung betriebene Selektion ging. Diese kampfbetonte agonistische Spannung moderner Bildungssysteme wird besonders an dem elementaren Widerspruch von gesellschaftlich postulierter Gleichheit und real reproduzierter Ungleichheit im Bildungssystem deutlich:

„Die Bildungspolitik ist unter allen Fachpolitiken vielleicht das sinnfälligste Beispiel dafür, wie der Staat ein kontrafaktisches Erscheinungsbild von Chancengleichheit und damit von der Klassen-Neutralität seiner eigenen Funktionen zu produzieren sucht, während doch gleichzeitig sozialer Status und Lebenschancen der Individuen an die Bewegungen einer profitgesteuerten Ökonomie gebunden bleiben. Weil die ideologischen Systemprämissen einer egalitären Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur weder offen fallengelassen noch aber im ökonomischen System selbst eingelöst werden können, übernimmt außerhalb der marktgesteuerten Verwertungsprozesse, aber zugleich in Abhängigkeit von ihnen, das öffentliche Bildungssystem die Funktion der Versöhnung dieser kontradiktorischen Bedingungen durch eine formelle Politisierung der gesellschaftlichen Verteilung von Sozialstatus und Lebenschancen.“

(Offe 1975: 241 Herv.i.O.)

Frühkindliche Bildung als Antwort auf politische Probleme von Armut, Integration und Arbeitsmarkt

Johanna Mierendorf und Thomas Grunau diskutieren, wie die Familie als Erziehungs- und Bildungsraum infolge der Sozial- und Arbeitsmarktreformen ab 2000 abgewertet und die frühkindliche Bildung gleichzeitig als Schlüssel zur Lösung mehrerer Probleme funktionalisiert (Armutsprävention, Integration, Anschluss an Arbeitsmarkt, Kompetenzwerb usw.) wurde.

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2.2 Neoliberale (Bildungs-)Reformen als bildungspolitische Bruchlinie

Die aktuellen Bildungsreformen seit den 1990er-Jahren stellen einen einschneidenden politischen Bruch zu allen vorangehenden Reformen seit dem 19. Jahrhundert dar, die eng mit dem Wandel des Verhältnisses von Staat(lichkeit), Gesellschaft, Demokratie und Ökonomie verknüpft sind. Denn Bildungsreformen waren generell Teil einer langfristig und prinzipiell progressiven Entwicklung, die sich prinzipiell durch eine inkludierend-egalitäre Expansion von Demokratie und Bildung auszeichnete (Demokratisierung, Sozial-/Wohlfahrtsstaat, Überwindung feudal-monarchischer Ordnungen, Privilegien und Hierarchien, grundgesetzliche Verankerung von Grund- und Bildungsrechten, Inklusion vormals exkludierter gesellschaftlicher Gruppen und Klassen usw.). Auch wenn es in dieser langen Phase stets restaurative Perioden gab, in denen entweder alte Vorrechte unter neuem Namen bestehen blieben oder bildungspolitische Kompromisse gefunden wurden, mit denen Inklusion und klassenspezifische Differenzierung institutionalisiert wurden – wie der ‚Weimarer Schulkompromiss‘ (Koneffke 1973)  –  so kann rückblickend seit dem 19. Jahrhundert bis in die 1960er-Jahre von einer langen Phase relativer, aber kontinuierlicher Inklusion gesprochen werden.

Der Artikel 146 der Weimarer Reichsverfassung (1919)

Das öffentliche Schulwesen ist organisch auszugestalten. Auf einer für alle gemeinsamen Grundschule baut sich das mittlere und höhere Schulwesen auf. Für diesen Aufbau ist die Mannigfaltigkeit der Lebensberufe, für die Aufnahme eines Kindes in eine bestimmte Schule sind seine Anlage und Neigung, nicht die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung oder das Religionsbekenntnis seiner Eltern maßgebend.

Diese lange Phase relativ egalitär-inklusiver Politiken scheint nun aber mit der globalen Durchsetzung neoliberaler Prinzipien seit den 1980er-Jahren an ihr Ende gelangt zu sein (Harvey 2007) und wir erleben mit den vielfältigen Krisen einen Epochenbruch mit elementaren politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Veränderungen, der auch das gesamte Bildungsfeld umfasst (Walgenbach 2019, Walgenbach 2019a, Höhne 2019). Die Stichworte, welche die Brüche bezeichnen, sind so vielfältig wie die Phänomene, die sie beschreiben: Neoliberalismus (Walgenbach 2019a, Willke 2003), Deregulierung und Postdemokratie (Crouch 2007), Privatisierung (Huffschmid 2004), Landnahme (Dörre 2009), Globalisierung, globale Enteignung(sökonomie) (Zeller 2004) oder Ökonomisierung (Schimank/Volkmann 2017, Höhne 2015, 2012a, Richter 2010, Radtke 2009, Schimank/Volkmann 2008, Hoffmann/Maak-Rheinländer 2001, Bröckling/Kraßmann/Lemke 2000). Aus der Aufzählung wird deutlich, dass es sich um Transformationen handelt, die primär mit Ökonomie, ökonomischen (Re)Formen und Mechanismen zusammenhängen. Um diese Perspektive kenntlich zu machen, kann man die beiden Begriffe ‚Neoliberalismus‘ und ‚Ökonomisierung‘ als begriffliche Klammer nehmen.

Die Rolle von Neoliberalismus und Ökonomisierung für (Bildungs)Reformen

Neoliberalismus und Ökonomisierung bezeichnen zum einen eine umfassende gesellschaftliche, politische, institutionelle und kulturelle Veränderung, die weit über das Feld der Ökonomie hinausreicht. Zum anderen werden hierbei ökonomische Prinzipien und Mittel politisch zum Zweck gesellschaftlicher Modernisierung eingesetzt. ‚Die Ökonomie‘ erweist sich dabei  als äußerst vielfältig: Sie kann in Form eines Diskurses etwa über Verschuldung, Investitionen oder Märkte in Erscheinung treten und sie wird als politische Maßnahme wie die Schuldenbremse sichtbar oder sie wird als ökonomische Legitimation für die Verkürzung der Schulzeit (sogn. G 8) genutzt, um junge Leute früher in den Arbeitsmarkt zu bringen, und kann auch bedeuten, dass bildungspolitisch gezielt der Privatschulanteil in den Bundesländern erhöht wird, um mehr Wettbewerbsdruck in und zwischen den Bundesländern und Schulen zu entfalten. Eines wird aus den Beispielen deutlich: Es sind primär politische Akteure, die ökonomische Mittel, Instrumente und Diskurse mobilisieren, um Reformen zu realisieren und als Modernisierung zu legitimieren. Anders formuliert könnte man auch sagen, dass es sich bei Ökonomisierung um eine politisch instrumentalisierte Ökonomie handelt, bei welcher der Neoliberalismus „nicht alleine als ideologische Rhetorik oder als politökonomische Realität aufgefasst [wird], sondern vor allem als ein politisches Projekt, das darauf abzielt, eine soziale Realität herzustellen, die es zugleich als existierend voraussetzt“ (Bröckling et al. 2000: 9, vgl. hierzu Punkt 1.2 und 1.3 zum Engagement von Milton Friedman).

Neue Akteure im Zuge ökonomisierender Bildungsreformen

Bildungsreformen sind Phasen struktureller bildungspolitischer Veränderungen. Christina Gericke zeigt, in welcher Weise der Einfluss privater Akteure wie Unternehmen, Verbände und Stiftungen im Bildungsbereich seit den 1990er Jahren nachhaltig gestiegen ist. Die Effekte dieser Entwicklung verdeutlich Christina Gericke u.a. exemplarisch am Netzwerk SchuleWirtschaft.

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Ökonomisierung als Reformstrategie

Die komplexen Veränderungen, die mit Ökonomisierung, Neoliberalismus bzw. Neoliberalisierung beschrieben werden, sind keineswegs – wie die Begriffe nahelegen – ausschließlich ‚der Ökonomie‘ oder ökonomischen Akteuren geschuldet, sondern beinhalten – wie erwähnt – ein sehr viel breiteres Spektrum unterschiedlicher Akteure, Interessen und Diskurse, die mit ökonomischen Themen und Gegenständen verbunden sind: PolitikerInnen und WissenschaftlerInnen genauso wie Stiftungen, zivilgesellschaftliche Akteure, Elterninitiativen, MedienvertreterInnen, Verbände, transnationale Organisationen wie die OECD oder Weltbank. Insofern ist ‚die Ökonomie‘ nicht der Hauptverantwortliche bzw. alleiniger Ausgangspunkt für Ökonomisierung, von dem eine Bedrohung oder eine feindliche Übernahme anderer gesellschaftlicher Bereiche und Institutionen ausgehen würde. Vielmehr greifen verschiedene Akteure auf ökonomische Instrumente, Diskurse und Mechanismen zurück, um Veränderungen und Reformen zu initiieren, legitimieren und durchzusetzen. Daher müssen Akteure und ihre Interessen, Felder und ihre Handlungslogiken, Diskurse und Deutungen, Institutionen und ihre Regeln unterschieden werden, auch wenn sie sich in der Realität überlagern. Denn die mit Ökonomisierung bezeichneten Veränderungen sind nicht selbsttreibend oder einer unabänderlichen evolutionären Entwicklung geschuldet, sondern beinhalten immer eine strategische Dimension, da Akteure unterschiedliche Motive, Interessen und Legitimationen ins Diskursfeld führen, mit denen die neoliberalen Veränderungen begründet werden.

Reformen im Zeichen von Exzellenz und Markt – statt Egalität und Staat

Ewald Terhart hat die Bildungsreformen der 2000er-Jahre resümierend folgendermaßen auf den Punkt gebracht: Es handele sich um eine globale „Umstellung der in den 60er und 70er Jahren dominierenden vier Leitkonzepte Quantität, Egalität, Staat und Wissenschaft auf Qualität, Exzellenz, Markt und Evaluation“ (Terhart 2000: 810). In dieser Verschiebung wird der Formwechsel von Bildung deutlich: Gegenüber einer pädagogischen Bestimmung von Qualität und dem, was Schule und Bildung gesellschaftlich leisten sollen, dominiere nun eine „ökonomische Form der Bestimmung von Qualität“ (Terhart 2000: 812). Die Charakteristika Exzellenz, Markt und Evaluation verweisen hierbei nicht nur auf das Ziel, einen (vermeintlich) objektiven Output zur maßgeblichen Größe für die Bestimmung von ‚Bildungsqualität‘ zu machen, sondern diesen Ouput über Vergleich und Wettbewerb gleichzeitig zu steigern.

Das Ende des kindlichen Müßiggangs

Thomas Grunau und Johanna Mierendorf stellen mit Blick auf die frühe Kindheit eine grundlegende  Veränderung fest, die sie als „Ende des Müßiggangs“ beschreiben:

Seit etwa den 2000er Jahren verschiebt sich Entwicklung von Kindheit als Moratorium hin zu einem Bildungsprozess der Jüngsten, der sowohl von Seiten der Eltern als auch der Institutionen organisiert wird. Bereits in dieser frühen Entwicklungsphase sollen die Kinder möglichst optimal in die ‚Bildungskette eingetaktet‘ werden, um elterlich gefördert und professionell flankiert einen optimalen ‚Frühstart‘ für den Bildungserfolg zu ermöglichen. Elten agieren in diesem Kontext gewissermaßen als ‚Coaches‘ ihrer Kinder – mit erzieherischer Funktion. Kindheit wird also zunehmend einem Leistungsregime mit einer Erfolgsorientierung unterworfen, in dem – wenngleich ‚kindgerecht‘ und spielerisch – wichtige Kompetenzen möglichst früh angeeignet werden (sollen). Der angzielte Bildungsvorsprung soll im Idealfall im Bildungsgang und die gesamte Lebensspanne erhalten bleiben.

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Die Spreu vom Weizen trennen

Durch die stärkere Orientierung an marktlichen Prinzipien (Wettbewerb, Outputsteuerung, Exzellenzförderung, Quasi-Märkte usw.) soll im schulischen und universitären Feld ‚die Spreu vom Weizen getrennt‘ und auf wettbewerbsfähige Spitzenleistungen – im Unterschied zu einem inklusiven Bildungssystem – fokussiert werden: Exzellenz kann nicht ‚massenhaft‘ von einer Bildungsinstitution wie etwa der ‚Massenuniversität‘ hervorgebracht werden, sondern zeichnet sich durch Differenzen aus, welche die wenigen ‚Exzellenten‘ von den vielen ‚Durchschnittlichen‘ sichtbar unterscheidet. Dies spiegelt sich institutionell etwa in der Förderstruktur wider, denn mit Maßnahmen wie der Exzellenzintitiative im Hochschulbereich sollen nicht mehr Gelder ‚mit der Gießkanne‘ verteilt, sondern vor allem Exzellenzuniversitäten ausgewählt und Spitzenforschung gefördert werden. Damit wird eine (bildungspolitisch gewollte) Spreizung von ‚exzellenter Elite‘ und ‚grundständiger Masse‘ im universitär-wissenschaftlichen Feld bewirkt. Insgesamt lässt sich feststellen, dass mit den neoliberalen Bildungsreformen eine betriebswirtschaftliche Steuerungslogik auf Bildungsinstitutionen übertragen wird, nach der tendenziell alle Einrichtungen, ob Schulen, Universitäten, freie Bildungsträger, Forschungsinstitute, Weiterbildungseinrichtungen usw., einer dauerhaften „an Produkten bzw. Wirkungen festgemachten vergleichenden Überprüfung der Leistungsfähigkeit“ (Terhart 2000: 823) unterliegen.

Die Rückkehr der Exzellenz(en)?

Zum Verhältnis von Ökonomie und Pädagogik

Grundlage des Interview(gespräch)s zwischen Mark Fabian Buck und Thomas Höhne ist die Frage nach dem komplexen Verhältnis von Pädagogik und Ökonomie.
Mark Fabian Buck hebt hervor, dass der Pädagogik ökonomisches Handeln nicht unbekannt sei, auch wenn dies oft in der Theorie verdrängt würde. Zudem unterscheidet er das Pädagogische vom Ökonomischen als unterschiedlichen Handlungslogiken. Verdeutlicht wird dies im Gespräch an einer weiteren Differenzierung von Effizienz und Effektivität, die einem pädagogischen Professionsethos zuwider laufe. Schließlich wird noch die Kontingenz bzw. Offenheit pädagogischer Prozesse als wichtiges Kernkriterium pädagogischen Handelns herausgearbeitet, die gleichwohl eine Steuerung des Prozesses und Zielerreichung nicht ausschließt.

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Quelle: World of Dictionary