Bildungsregime

Regimeansatz und Regimebegriff

Welche Bedeutung hat der Nationalstaat noch für das Bildungssystem? Was haben TIMSS und PISA mit deutscher Schulpolitik zu tun? Und warum sind internationale Bildungsvergleichsstudien ab Mitte der 1990er Jahre so einflussreich geworden? Fragen dieser Art versucht der Regimebegriff mit einer eigenen Akzentsetzung dahingehend zu fassen, als mit ihm

a) eine Akteursperspektive aufgemacht wird,

b) die gegenseitige Abhängigkeit von Akteuren unterstrichen und

c) die daraus sich ergebenden sozialen und bildungspolitischen Kräfteverhältnisse beleuchtet und analysiert werden.

Im Unterschied zum Begriff ‚Militärregime’, der einen repressiven Machtbegriff beinhaltet, betont der politikwissenschaftliche Regimebegriff die gegenseitige Abhängigkeit verschiedener (national)staatlicher, ökonomischer, zivilgesellschaftlicher und transnationaler Akteure. Macht setzt sich demgemäß in Form von Konsens, Verhandlung und Meinungsbildung, wodurch bestimmte Normen, Regeln und Sichtweisen dominant werden. Wissen spielt dabei eine zentrale Rolle, das etwa über „epistemic communities, transnationale Wissensgemeinschaften“ (List 2007: 229) verbreitet und damit ein spezifischer Konsens etabliert wird, der für eine Phase von den maßgebenden Akteuren als nicht hintergehbar erachtet wird. Der Nationalstaat stellt innerhalb dieses Geflechts aus heterogenen Akteuren nur noch einen von vielen Teilnehmern da, der keine so sichtbar dominante Position mehr für politisches Handeln und Entscheidungen inne hat, wie dies noch im 19. und 20. Jahrhundert der Fall war. Mit dem Verlust der Steuerungssouveränität des Nationalstaats zeigen sich neue Governanceformen wie die einer „Metagovernance“ (Jessop 2011: 62 f.), über die sich neue Formen des Regierens und Steuerns herausbilden. Die Veränderungen verschiedener Wissensformen – seien es explizite Regeln und Prinzipien oder implizite Normen – spielen bei der Durchsetzung neuer Steuerungsformen eine zentrale Rolle, indem sie Handlungsspielräume vorgeben, Entscheidungskorridore definieren und nicht zuletzt Zugänge, Aus- und Einschlüsse festlegen. Bob Jessob spricht von „strategischer Selektivität, d.h. der asymmetrischen Privilegierung verschiedener Koordinationsmodi“ (Jessop 2011: 63), die Netzwerke und Verhandlungen (‚runder Tisch’) zwischen verschiedenen Akteuren ausmachen können. Auch Wissen in Form deklarierter ‚innovativer Ideen’ oder entsprechender Akzentuierungen wie die einseitige Fokussierung bildungspolitischer Akteure auf ‚Wettbewerb’ und ‚Leistung’ wird hierbei hegemonial (gemacht) in einer komplexen Verdichtung aus Diskursen, Praktiken und institutionellen Veränderungen, bei der auch die Delegitimierung normativer Setzungen und die Ersetzung besagter Normen von entscheidender Bedeutung ist. Denn mit der meritokratisch-kompetitiven Funktionalisierung von Bildung werden unmittelbar Gleichheitsforderungen in ihrer politischen Bedeutung relativiert, die ein starkes Engagement von Seiten des Staates erfordern. Im Bereich der Bildung stehen die Leistungsvergleichsstudien PISA und der BOLOGNA-Reformprozess für die Etablierung eines neuen Bildungsregimes seit Ende der 1990er Jahre, durch das neue Regeln (Standardisierung, Vergleich), neue Normen (Wettbewerb, Marktkonkurrenz) und neue Wissensformate (Modularisierung, Kompetenzen, ECTS usw.) durchgesetzt werden. Bei aller Unterschiedlichkeit der Instrumente und Prozesse zeigt sich, dass nicht nur das Zusammenwirken expliziter Regeln – festgeschrieben in Verträgen – und impliziter Normsetzungen die Wirksamkeit von Regimes ausmacht, sondern auch das spezifische Zusammenspiel staatlicher und nicht-staatlicher, nationaler und transnationaler Akteure.Wissenschaftlich und konzeptionell werden mit dem Regimebegriff also ganz unterschiedliche Zustände und Konstellationen machtvoller Verdichtungen aus Wissen, Regeln, Normen, Diskursen, Akteuren und Institutionen bezeichnet. Dies zeigen Wortkombinationen wie ‚Akkumulationsregime’ als Vorherrschaft einer bestimmten Produktionsweise, ‚Geschlechterregime’ als Dominanz heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit mit Effekten für die soziale Ungleichheit oder ‚Zeitregime’ als zeitlich-gesellschaftliches Ordnungsmuster, durch das der Einzelne zu einem produktiven Umgang mit Zeit im Zeichen von Effizienz angehalten wird. In ähnlicher Weise wird etwa gegenüber dem funktionalistischen Begriff des ‚Migrationssystems’ der des ‚Migrationsregimes’ bevorzugt, denn er ermögliche, „eine Vielzahl von Akteuren einzubeziehen, deren Praktiken zwar aufeinander bezogen sind, nicht aber in Gestalt einer zentralen (systemischen) Logik geordnet, sondern vielfach überdeterminiert sind“ (Karakayali/Tsianos 2012). Damit wird auch die Verteilung von Macht auf mehrere Akteure und deren Abhängigkeit von den jeweiligen Konstellationen herausgestellt, was für die Ausbildung eines Regimes typisch ist. Der Regimebegriff verweise zudem darauf, dass nationalstaatliche „Grenzen nichts statisches sind, sondern sozialen Dynamiken und Kräfteverhältnissen unterliegen“ (ebd.). Nach dem Motto ‚Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile’ wird mit dem Regimebegriff die Qualität einer neuen Konfiguration aus Akteuren, Normen, Regeln, Diskursen und Wissen hervorgehoben, die veränderte Machtverhältnisse, Handlungsformen und institutionelle Restrukturierungen beinhaltet. Mit Blick auf Bildung werden die radikalen Veränderungen in unterschiedlichen nationalen Bildungssystemen, die sich weltweit beobachten lassen, auf das Entstehen eines neuen Bildungsregimes zurückgeführt (Parreiro do Amaral 2007).

Analytische Perspektiven des Regimebegriffs

Ganz allgemein zeichnet sich die Regimeforschung durch zwei unterschiedliche Schwerpunkte aus. Zum einen wird auf den Regimebegriff in der Tradition der internationalen Beziehungen und im Anschluss an die Governanceforschung vor allem bei Fragen von Steuerung, Entscheidungsprozeduren und Handlungslogiken in komplexen Netzwerkstrukturen zurückgegriffen. Dort werden Regime in einer funktionalistischen Perspektive als „problemlösende Struktur“ (Parreiro do Amaral 2007: 163) betrachtet, deren Analyse zu einem angemesseneren Umgang mit komplexen Akteurskonstellationen führen soll (List 2007). Der zweite Schwerpunkt der Regimeforschung steht in der Tradition kritischer Machtanalyse. Hier wird der analytische Akzent nicht nur auf die Untersuchung von Hierarchien (vertikale Strukturen von Bürokratie und Herrschaft) gelegt. Ähnlich wie in der eingangs erwähnten Theorie der ‚Metagovernance’ werden darüber hinaus die horizontalen Ein- und Ausschlüsse beleuchtet, die mit modernen Regimen verbunden sind, wozu auch Praktiken der Selbstausschließung von Akteuren gehören (Amos 2009: 83). In gouvernementaler Perspektive, bei der das Verhältnis von Wissen und Macht untersucht wird, spricht Michel Foucault von Wahrheitsregimen oder auch von „diskursiven Regimen“ (Foucault 1978: 26), in denen die Bedingungen für als wahr geltende Aussagen und das, wie sie als wahr definiert werden, festgelegt werden. Mit Blick auf Bildung kann daher gefragt werden, worin die ‚Wahrheit’ der Verknüpfung von Bildung mit Leistung, Effektivität und Effizienz liegt, die historisch in Art und Ausmaß so zum ersten Mal auftritt. Foucault betont, dass Wahrheit nicht das „Ensemble wahrer Dinge“ sei, sondern das „Ensemble der Regeln, nach denen das Wahre vom Falschen geschieden“ (ebd.: 53) würde. Dies trifft für die Frage nach den Strukturen des gegenwärtigen Bildungsregimes etwa für den gegenwärtigen Wandel der Bildungsforschung zu, bei welcher der Begriff der Evidenz geradezu als Kampfbegriff gegen eine vermeintlich anachronistisch gewordene und damit ‚falsche’ Vorstellung von Bildung und Bildungsforschung ins Feld geführt wird. Die Diskursordnung eines Regimes führt also zu entsprechenden Distinktionen und Ausschlusseffekten, wie sie etwa in der mehr oder minder offenen Delegitimierung einer Forschungstradition bestehen kann. Mit Blick auf Disziplinarinstitutionen hat Gilles Deleuze in Anlehnung an Foucault daher auch vom „Gefängnis-Regime“ und vom „Schul-Regime“ gesprochen und den Regimebegriff für den „fortschreitenden und gestreuten Aufbau einer neuen Herrschaftsform“ verwendet (1990: 262).

Ökonomisierung als Teil eines neuen Bildungsregimes

Was bedeutet die skizzierte analytische Perspektive des Regimebegriffs für den Bildungsbereich und für die Problematik der Ökonomisierung von Bildung? Im Rahmen kritischer Analysen von Bildungsregimes bzw. der „Emergenz eines neuen Bildungsregimes“ (Parreiro do Amaral 2011, vgl. Höhne/Schreck 2009, Amos/Radtke 2007) wird versucht, die governancetheoretische Steuerungsperspektive und kritische Machtanalyse miteinander zu verbinden. Hierbei geht es vor allem um den zunehmenden Einfluss transnationaler Akteure auf nationale Bildungspolitiken und damit um eine weltweite Diffusion gleichförmiger institutioneller Formen und Strukturen im Bildungsbereich (Parreiro do Amaral 2011: 79 ff.). Macht, Wissen und Interessen werden als zentrale Faktoren der Entstehung von Bildungsregimes erachtet, die im Kontext der „Wissensgesellschaft“ und einer „wissensbasierten Ökonomie“ eine starke rationalisierende und ökonomisierende Dynamik in der Bildung erhielten (ebd.: 144). Ein „entstehender internationaler Bildungsmarkt“ (ebd.) trage entscheidend zur Entwicklung des neuen Bildungsregimes bei. Thomas Höhne und Bruno Schreck identifizieren weitere Veränderungen im Bildungssystem, die in der Gesamtbetrachtung die Konturen eines neuen Bildungsregimes sichtbar werden lassen (vgl. Höhne/Schreck 2009: 255ff.). Vier zentrale Elemente lassen sich hierbei erkennen:

1. Seit den 1990er Jahre verändern sich Formen von Politik, die Entscheidungsstrukturen zunehmend in Ausschüsse oder informelle Beratungsgremien verlagern und eine auf den kurzfristigen Erfolg zielende Projektpolitik verfolgen. Hierbei wird oftmals Verantwortung ganz oder teilweise an private oder übergeordnete Akteure wie die OECD auslagert. Das gesamte politische Feld wird komplexer, intransparenter und stärker denn je von diesen (sub)politischen Formen bestimmt, die offene Entscheidungsprozeduren wie auch formale Prozedere der Demokratie unterlaufen (vgl. ebd.: 207ff.).

2. Diese Informalisierung von Politik gründet zentral auf neuen Akteurkonstellationen aus Staat, Wirtschaft und transnationalen Organisationen, die bildungspolitisch bedeutsamer und einflussreicher werden. So kommt es etwa im Schulbereich auf lokaler Ebene zu neuen Kooperationsformen in Form von Public-Private-Partnership-Projekten oder Regionalkonferenzen, wodurch zunehmend neben zivilgesellschaftlichen auch privatwirtschaftliche Akteure bildungspolitisch eingebunden werden. Da diese Netzwerke aus privaten, staatlichen, lokalen und transnationalen Akteuren steuerungsrelevante Einflussgrößen darstellen, es sich bei solchen Netzwerken aber nicht um demokratisch legitimierte Gremien handelt, stellt sich grundlegend die Frage nach der Eignung, den Befugnissen und der Legitimation solcher ‚formal-informeller‘ Verbünde.

3. Ein weiteres zentrales Element des neuen Bildungsregimes stellen räumliche und zeitliche Veränderungen staatlichen Handelns dar. Dazu gehören neben den erwähnten politischen Veränderungen, der zeitlichen Verdichtung politischer Entscheidungen (‚Projektpolitik’) auch neue Formen der Macht-, Aufgaben- und Zuständigkeitsverteilungen auf den Ebenen nationaler und globaler Bildungssteuerung. Dies beinhaltet nicht nur die Weitergabe rechtlicher und politischer Befugnisse ‚nach unten’ (Prinzip der ‚Subsidiarität’), sondern etwa auch Maßnahmen wie die Föderalismusreform mit ihrer expliziten Umstellung von einem „kooperativen Föderalismus“ auf einen Wettbewerbsföderalismus (vgl. Scharpf 2009: 30ff.). In dem Maße, wie der Staat auf der transnationalen Ebene zum „nationalen Wettbewerbsstaat“ (Hirsch 1995) wird, geraten auf der sub-nationalstaatlichen Ebene Länder, Regionen und Kommunen in einen verschärften Wettbewerb und machen politisch-ökonomische Regulierungen insgesamt wettbewerbsförmiger.

4. Schließlich ist die Ausprägung des neuen Bildungsregimes in den 1990er Jahren mit der Durchsetzung des neuen Paradigmas der politischen Steuerung in Form ‚regulierter Autonomie’ verbunden. Hierbei zieht sich der Staat selektiv aus bestimmten Formen direkter Steuerung zurück (Stichwort ‚Schulautonomie’), während neue Kontrollformen wie Evaluation, Schulinspektion oder Zentraltest etabliert werden. Diese regulierte Autonomie zwingt Bildungsinstitutionen auf der einen Seite zur Übernahme neuer und wettbewerbsorientierter Instrumente wie etwa Schulprogramme zur Profilierung der Einzelschule, während andererseits eine verstärkte Spreizung der Schullandschaft in starke und schwache Schulen zu beobachten ist.

Im Rahmen der neuen Steuerungs- und Machtformen, die seit den 1990er Jahren im Bildungsbereich national und transnational politisch durchgesetzt werden, spielt Ökonomisierung als Machtstrategie eine zentrale Rolle. In Form einer stärkeren Wettbewerbsorientierung in der Bildungspolitik, neuen Bildungsmärkten vor allem im universitären Bereich, erhöhtem Einfluss privater Akteure wie Stiftungen und transnationaler Institutionen wie der OECD, stellt die maßgeblich ökonomisch ausgerichtete Rationalisierung eine treibende Kraft des neuen Bildungsregimes dar. Neue Steuerungsformen und -instrumente, Akteurkonstellationen, Politikformen und eine gewandelte Steuerungsauffassung, die auf dem Paradox einer outputorientierten regulierten Autonomie beruht, wirken bei der Transformation des Bildungssystems zusammen. Diese Vielförmigkeit der Veränderung auf mehreren Ebenen macht die Komplexität gegenwärtiger Reformen aus, die der Begriff des Bildungsregimes einzufangen beansprucht.

Thomas Höhne und Dirk Hommrich

Literatur

  • Amos, Karin (2009): Bildung in der Spätmoderne. Zur Intersektion von Educational Gouvernance und Gouvernementalität. In: Tertium Comparationis, 15, Nr. 2, S. 81-107.
  • Deleuze, Gilles (1993): Postscriptum über Kontrollgesellschaften. In: Ders.: Unterhandlungen 1972-1990. Frankfurt Main: Suhrkamp. S. 254-262.
  • Foucault, Michel (1978): Wahrheit und Macht. Interview mit A. Fontana u. P. Pasquino. In: Ders.: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve, S. 21-54.
  • Hirsch, Joachim (1995): Der nationale Wettbewerbsstaat. Berlin: Edition ID-Archiv.
  • Höhne, Thomas/ Schreck, Bruno (2009): Private Akteure im Bildungsbereich. Eine Fallstudie zum schulpolitischen Einfluss der Bertelsmann Stiftung am Beispiel von SEIS. Weinheim/München: Juventa.
  • Jessop, Bob (2011): Regieren + Governance im Schatten der Hierarchie: Der integrale Staat und die Herausforderungen der Metagovernance. In: Demirovic, Alex/ Walk, Heike (Hrsg.): Demokratie und Governance. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 43-72.
  • Karakayali, Serhat/ Tsianos, Vassilis (2012): Mapping the order of New Migration. Undokumentierte Arbeit und die Autonomie der Migration: www.transitmigration.org/db_transit/ausgabe.php?inhaltID=136 (letzter Zugriff: 27.08.2012).
  • List, Martin (2007): Regimetheorie. In. Benz, Arthur (et al.) (Hrsg.): Handbuch Governance. Theoretische Grundlagen und empirische Anwendungsfelder. Wiesbaden: VS Verlag, S. 226-239.
  • Parreiro do Amaral, Marcelo (2007): Regimeansatz – Annäherungen an ein weltweites Bildungsregime. In: Tertium Comparationis, 13, 2 (2007), S. 157-182.
  • Parreiro do Amaral, Marcelo (2011): Emergenz eines Internationalen Bildungsregimes? International Educational Governance und Regimetheorie. Münster: Waxmann Verlag.
  • Scharpf, Fritz W. (2009): Föderalismusreform. Frankfurt am Main: Campus Verlag.

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