Elite

Einleitung

Die seit 2004 begonnene Exzellenzinitiative ist eng mit dem Begriff der Eliteuniversität verbunden und verändert das deutsche Hochschulsystem grundlegend. Ziel ist es dabei, die deutschen Hochschulen, nach anglo-amerikanischem Vorbild, international konkurrenzfähig zu machen. Dazu bedarf es nach vorherrschender Meinung besonderer Elitebildungseinrichtungen, sogenannter Leuchttürme bzw. eines ‚deutschen Harvard‘ (FAZ 2004: 1). Mit der Berufung von Prof. Hippler als Präsident der Hochschulrektorenkonferenz ist die Elitebildung noch weiter in den Vordergrund gerückt und findet in der Personalie einen Befürworter des Elitebegriffs. Elite soll sich durch Konkurrenz entfalten und erklärtermaßen selektieren. Tatsächlich ist es jedoch fraglich, ob ein elitäres Bildungssystem, das auf wenige Eliteuniversitäten setzt, wirklich leistungsfähiger als das bisherige System ist.

Historische Entwicklung des Elitebegriffs

Der Begriff Elite entstammt dem lateinischen eligere (auslesen, auswählen) sowie der französischen Übersetzung élire (auserwählen, küren) (vgl. Hillmann 1994: 177f.; Wasner 2004: 16). In seiner lateinischen Bedeutung wurde der Begriff bereits im christlichen Kontext der biblischen Aussage „Denn viele sind berufen, aber nur wenige sind auserwählt“ verwendet. Demnach wurde Elite als gottgegeben aufgefasst (vgl. Wasner 2004: 16). Seit dem 17. Jahrhundert ist der Begriff im Französischen geläufig und wird im Zuge der französischen Revolution im 18. Jahrhundert zu einem politischen, leistungsbezogenem Kampfbegriff des aufstrebenden Bürgertums gegen die feudale Erbaristokratie (vgl. Hartmann 2004: 9).
Durch verschiedene ökonomische, politische und rechtliche Veränderungen ergeben sich breitere Aufstiegschancen für das Bürgertum ab dem 19. Jahrhundert. Qualifikation und Bildung werden voneinander unabhängig, was sich u.a. an der institutionellen Ausdifferenzierung des Schulsystems zeigt (z. B. die Entstehung des Realgymnasiums Ende des 19. Jahrhunderts). Carola Groppe interpretiert diese Entkoppelung als Krise der bestehenden Elite, die sich durch die Entkoppelung zu den nachrückenden Aufsteigern zunehmend schwieriger abgrenzen kann. Fluchtpunkte der Elite sind einerseits Interventionen der Pädagogik, wonach eine staatliche Bildung die humanistischen Bildungsziele nicht erfüllen kann. Andererseits werden reformpädagogische Schulen gegründet, die durch hohe Schulgebühren nur den Eliten zugänglich sind (vgl. Groppe 2006: 99 ff.).
Industrialisierung und aufkommende Klassenkämpfe bestimmten auch die sozialwissenschaftlichen Theorie im 19. Jahrhundert. Dabei wurde die Herrschaft einer Minderheit über die Mehrheit zu einem Naturgesetz erhoben (siehe besonders Le Bon 1961 [1895]; Mosca 1950 [1896]; Michels 1908; Pareto 1955 [1916]). An diese Diskussionen knüpften die deutschen und italienischen Faschisten teilweise unmittelbar an. Entsprechend war der Elitebegriff nach 1945, besonders in Deutschland, stark diskreditiert (vgl. Hartmann 2004: 43).
Mit der 1968er Generation erreichte der anti-elitäre und anti-autoritative Diskurs sicherlich seinen Höhepunkt und mündete nicht zuletzt in die Öffnung des Bildungswesens in den 1960er und 1970er Jahren. Die herausragende Bedeutung des Bildungssystems für die Elitereproduktion nährte die Hoffnung auf eine breitere Teilhabe der Bevölkerung im Sinne von Dahrendorfs (1968) Forderung: Bildung ist Bürgerrecht . Gleichzeitig meldeten sich erste Zweifel daran, inwieweit die Bildungsexpansion tatsächlich in der Lage sei, mehr Chancengleichheit und eine Öffnung der gesellschaftlichen Spitzenpositionen zu bewirken (siehe grundlegend Bourdieu/Passeron 1971; Bourdieu et al. 1981).

Wiedererstarken des Elitedenkens

Durch die Wiedervereinigung Deutschlands und die Auswirkungen ökonomischer Globalisierung im Sinne internationalen Wettbewerbs lässt sich eine Reaktivierung und Enttabuisierung des Elitebegriffs beobachten. So wird der Besitz von Humankapital zur zentralen Ressource des ‚rohstoffarmen Deutschlands‘, wie ein verbreiteter politischer Diskurs verlauten lässt. Unternehmen und Unternehmensverbände greifen zunehmend in den Bildungsdiskurs ein. Vordergründig werden diese Interventionen als Sorge um die Bildungsinstitutionen und deren Teilhabern dargestellt, die mit Rezepten der Wirtschaft – Ausrichtung auf Kennzahlen, Transparenz und Autonomie, kuriert werden sollen. Faktisch dienen diese Interventionen dazu, auf den verschiedenen institutionellen Ebenen des Bildungsdiskurses Elitevorstellungen zu etablieren und zu institutionalisieren (z.B. Leuchttürme, Exzellenz). Zu den Antrieben dieser Entwicklung gehören Stiftungen, deren explosionsartige Vermehrung zugleich ein guter Indikator für diese Entwicklung ist. Mit dieser Institutionalisierung „individueller Werte“ geht eine erneute und verschärfte Elitenbildung einher. Merkmale dieser Selektionsprozesse sind die freie Auswahl der Studierenden, die Einführung von Studiengebühren sowie das Ende der gleichmäßigen Verteilung finanzieller Mittel. Auf diese Weise soll es gelingen, die Rekrutierung nach anglo-amerikanischem Vorbild zu organisieren, indem Studierende zu Kunden auf einem Markt für universitäre Dienstleistungen gemacht werden.
In den meisten westlichen Ländern gibt es explizite Elitebildungseinrichtungen, die sich aber national durchaus stark unterscheiden. In den USA sind dies die sogenannten ‚Ivy-League‘ Universitäten, in Großbritannien eine enge Kombination aus Privatschulen und den beiden Eliteuniversitäten Oxford und Cambridge und in Frankreich die ‚Grand Écoles‘ (siehe ausführlich Hartmann 2007). Das deutsche Bildungssystem kennt solche Einrichtungen bisher nicht. Lediglich die Promotion erfüllt eine soziologisch ähnliche Funktion in der Elitenreproduktion, ist aufgrund der hohen Individualisierung jedoch kaum dazu in der Lage einen gemeinsamen ‚Korpsgeist‘ der deutschen Eliten zu stiften. Umso erstaunlicher ist es, dass die Spitzenpositionen in Deutschland ebenso sozial exklusiv besetzt werden wie in den USA, Frankreich oder Großbritannien (siehe Hartmann 2002).

Elitenforschung, Bildung und Gesellschaftspolitik

In der Soziologie hat es sich durchgesetzt von Elite in der Mehrzahl zu sprechen, da in den meisten Gesellschaften eine Koexistenz verschiedener funktioneller Teileliten (Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion, Militär, etc.) vorzufinden ist. Als Elite werden dann üblicherweise diejenigen Spitzenpositionen innerhalb der Sektoren angesehen, die erheblichen Einfluss auf gesamtgesellschaftlich wichtige Entscheidungen nehmen können (vgl. Dreitzel 1962: 71; Hartmann 2002: 25; Wasner 2004: 17). In welchem Verhältnis die Teileliten zueinander stehen und wie offen das Verhältnis zwischen Eliten und Bevölkerung ist, wird dagegen kontrovers diskutiert. Bourdieu spricht beispielsweise bezüglich der französischen Staats- und Verwaltungseliten vom „Staatsadel“, der sich über das nationale Bildungssystem reproduziert (Bourdieu 2004). In der politischen Bildungsdiskussion statten Elitebefürworter den Elitebegriff mit dem höchsten Grad wissenschaftlicher Reichweite aus und setzen ihn in eins mit einer gleichzeitigen ökonomischen Effizienz.
Mit Rückgriff auf den Diskurs des 19. Jahrhunderts stellt die neoliberale Perspektive heute erneut Elite der Masse gegenüber. Demzufolge sei die Massenuniversität ineffizient und könne im internationalen Wettbewerb nicht bestehen. Um die Elite von der Masse zu trennen sind, dieser Argumentation folgend, Selektionsmechanismen notwendig, die in einer modernen Gesellschaft legitimer Weise nur im Bildungssystem vollzogen werden können. Das Programm zur Umsetzung der Selektionskriterien beinhaltet offiziell formale Kriterien (Prüfungsanspruch), kulturelle Kriterien (Bewerberauswahl) und ökonomische Kriterien (Studiengebühren). Hinzu kommen versteckte oder auch einsehbare soziale Kriterien (Studiengebührenrabatte von Kindern, deren Eltern bereits die Institution besuchten). Dabei werden Begabtenförderung (siehe Urban 2004) und Förderung der breiten Bevölkerung, insbesondere der bildungsfernen Milieus, als politisch unvereinbare Ziele entgegen gesetzt. Die neoliberale Rede von Elite und Humankapital reduziert Bildung auf einen Standortfaktor und unterschätzt, wie im Übrigen auch die kritische Soziologie, die positiven individuellen und gesellschaftlichen Effekte von Bildung, die weit über ökonomische Verwertbarkeit hinaus gehen. Einer kritischen Intervention obliegt es demnach die versteckten Kosten einer vornehmlichen Ökonomisierung der Bildung (soziale Elitenbildung aus wohlhabenden und reichen Familien, Aufstiegsverwehrung für ökonomisch Benachteiligte) aufzuzeigen.
Der Elitebegriff kann heute durchaus wieder als politischer Kampfbegriff verstanden werden. Die Reaktivierung und Enttabuisierung deutet auf einen gesamtgesellschaftlichen Wandel des hegemonialen Diskurses hin. Mit Verweis auf den Standortwettbewerb im globalen Kontext gewinnt die Leistungsideologie an Gewicht. Soziale Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates oder der Bildungsexpansion werden zu Luxusgütern aus ‚besseren Zeiten‘ erklärt, die heute nicht nur unnötig, sondern sogar dysfunktional sind. Diese könne man sich in Zeiten eines scharfen internationalen Wettbewerbs einfach nicht mehr leisten, so die Argumentation. Soziale Ungleichheit wird so zum (positiven) Indikator für die Wettbewerbsfähigkeit einer Gesellschaft und ihres Bildungssystems. Der Ruf nach Elite ist deren euphemistische Umformulierung, denn je geschlossener die Elite, umso größer ist die soziale Ungleichheit (Hartmann 2007).

Michael Matzky-Eilers und Christian Schneickert

Literatur

  • Bourdieu, Pierre/ Passeron, Jean Claude (1971): Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. Stuttgart: Klett.
  • Bourdieu, Pierre/ Boltanski, Luc (et al.) (Hrsg.) (1981): Titel und Stelle. Über die Reproduktion sozialer Macht. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt.
  • Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Dahrendorf, Ralf (1968): Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik. Hamburg: Wegner.
  • Dreitzel, Hans P. (1962): Elitebegriff und Sozialstruktur. Eine soziologische Begriffsanalyse. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag.
  • Ecarius, Jutta/ Wigger, Lothar (Hrsg.) (2006): Elitebildung – Bildungselite. Erziehungswissenschaftliche Diskussionen und Befunde über Bildung und soziale Ungleichheit. Opladen: Budrich.
  • FAZ (2004): Ein „deutsches Harvard“ sorgt für Diskussionsstoff. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, (4/2 R), 6. Januar 2004.
  • Groppe, Carola (2006): Bildungselite contra Elitebildung. Ein Beitrag zur reflektierten Aufnahme des Elitebegriffs in der Erziehungswissenschaft. In: Ecarius, Jutta/ Wigger, Lothar (2006): Elitebil¬dung – Bildungselite. Erziehungswissenschaftliche Diskussionen und Befunde über Bildung und soziale Ungleichheit. Opladen: Budrich, S. 94-116.
  • Hartmann, Michael (2002): Der Mythos von den Leistungseliten. Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft. Frankfurt am Main: Campus.
  • Hartmann, Michael (2004): Elitesoziologie. Eine Einführung. Frankfurt am Main/ New York: Campus.
  • Hartmann, Michael (2006): Leistungseliten – soziale Selektion durch Herkunft und Hochschule. In: Ecarius, Jutta/ Wigger, Lothar (2006): Elitebildung – Bildungselite. Erziehungswissenschaftliche Diskussionen und Befunde über Bildung und soziale Ungleichheit. Opladen: Budrich, S. 206-225.
  • Hartmann, Michael (2007): Eliten und Macht in Europa. Frankfurt am Main: Campus.
  • Hillmann, Karl-Heinz (1994): Elite. In: Ders.: Wörterbuch der Soziologie. 4., überarbeitete und ergänzte Auflage. Stuttgart: Kröner, S. 177-178.
  • Le Bon, Gustave (1961 [1895]): Psychologie der Massen. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag.
  • Michels, Robert (1908): Die oligarchischen Tendenzen der Gesellschaft. Ein Beitrag zum Problem der Demokratie. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik (Nr. 27): S. 73-135.
  • Mosca, Gaetano (1950 [1896]): Die herrschende Klasse. Bern: Verlag A. Francke.
  • Pareto, Vilfredo (1955 [1916]): Allgemeine Soziologie. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck).
  • Urban, Klaus K. (2004): Hochbegabtenförderung und Elitenbildung. In: APuZ. Aus Politik und Zeitgeschichte (B10/2004), 01. März 2004: Eliten in Deutschland, S. 34-38.
  • Wasner, Barbara (2004): Eliten in Europa. Einführung in Theorien, Konzepte und Befunde. Wiesbaden: VS-Verlag.

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