Dass Lernen unmittelbar mit der Länge des Lebens verbunden und zu einem programmatischen bildungspolitischen Ziel erklärt wird, ist historisch ein relativ neues Phänomen. Bildungstheoretisch wird zwar bereits im 18. Jahrhundert auf die tendenzielle Unabgeschlossenheit von Bildungsprozessen hingewiesen, doch ist diese an eine kontingente und individuelle Vervollkommnung ohne die bildungspolitische Vorgabe materialer oder formaler Zielsetzungen geknüpft. Aus der Implikation, dass Bildung potentiell lebenslang stattfindet, wird im bildungspolitischen Diskurs der 1960er Jahre eine normative Explikation und damit ein regelrechtes Programm des Lebenslangen Lernens, durch das der Einzelne extern auf bestimmte Lernleistungen festgelegt wird – die als Erwartungen, Kompetenzziele oder Standards artikuliert werden können. Mittlerweile hat die Vorstellung der ‚Lebenslänglichkeit’ von Lernen bzw. das Konzept ‚Lebenslanges Lernen’ den Alltag der Menschen erreicht. Hierbei kommen ihm bildungspolitisch sowie subjekttheoretisch mehrere Funktionen zu: als Norm darf es mittlerweile in keiner bildungspolitischen Verlautbarung mehr fehlen, als Möglichkeit scheint es dem Einzelnen erweiterte Optionen der Selbstvervollkommnung oder Qualifiktation zu bieten und stellt als Bedrohung zugleich ein Risiko dar, da mit ihm keine eindeutigen Renditeerwartungen verbunden sind. Das ist keineswegs selbstverständlich, handelt es sich doch zuerst um ein relativ offenes und klassisches (bildungs-)politisches Konzept, wenn man sich die historischen Ursprünge vor Augen führt (s.u.). In Bezug auf Bildung ließe sich Lebenslanges Lernen, worauf Casale, Oelkers, Jacobi und Tröhler hinweisen, als ein ‚alter Hut’ beschreiben (Casale et al 2006), das Bildungstheoretiker_innen nicht überraschen muss. In einem weiterführenden Sinne weist aber das, was heute als Lebenslanges Lernen bezeichnet wird, auf eine bestimmte, moderne Subjektivierungsweise hin, die sich von den historischen Weisen des Lernens über die Lebensspanne unterscheidet.
Zum Diskurs des Lebenslangen Lernens
Im Kontext Lebenslangen Lernens sollen Individuen, so die bildungspolitische Erwartung, sich selbst so transformieren, dass diese zur Gestaltung der gesellschaftlichen Transformation beitragen können. Auf eine paradoxe Weise wird Lebenslangem Lernen eine Ambiguität zugeschrieben als „both a causal factor in change and a response to social change“ (Jarvis 2009: 17), also ein Effekt der gesellschaftlichen Transformation und zugleich ihr Motor. In der Literatur zum Lebenslangen Lernen – und das gilt für die politischen Gutachten und Programme ebenso wie für die wissenschaftlichen Untersuchungen – wird der gesellschaftliche Wandel als Grund für das Auftreten und die Karriere des Lebenslangen Lernen angeführt (vgl. ebd). In der bildungswissenschaftlichen Diskussion wird auf die Geburt des Konzepts ‚Lebenslanges Lernen’ aus dem Geist der Krise, genauer: der „Weltbildungskrise“ (Coombs 1968) der 1970er Jahre hingewiesen (vgl. Pongratz 2006: 163). Hier spielen vor allem der Faure-Bericht der UNESCO „Learning to be. The world of education today and tomorrow“ (Faure et al 1972) sowie der OECD-Bericht „Recurrent Education – A strategy for lifelong education“ (Kallen & Bengtson 1973) eine hervorgehobene Rolle. Während der Diskursbeginn mit einem humanistisch-emanzipatorischen Anspruch verbunden war, wird Lebenslanges Lernen in der Folge vor allem seit den 1990er Jahren ökonomisch markiert und auf Flexibilität und Konkurrenz ausgerichtet (Meyer-Drawe 2008: 45). Das Motiv der Konkurrenz im Bildungsbereich findet sich allerdings schon in der Vorgeschichte zum Lebenslangen Lernen, die von „Die deutsche Bildungskatastophe“ (Picht 1964) im Kontext des Sputnik-Schocks Ende der 1950er Jahre und die konstatierte Weltbildungskrise, bis hin zur realen ersten Erdölkrise und damit grundlegenden Krise des westlichen Kapitalismus der 1970er Jahre reicht. Schon dieser Diskursauftakt lässt die Heterogenität des Konzepts Lebenslanges Lernen deutlich werden. Denn während der UNESCO-Konzeption ein Gesellschaftsentwurf bzw. die Vision einer „Lerngesellschaft“ zugrunde liegt, die sich tendenziell auf ein friedliches, demokratisches und kooperatives Zusammenleben hin entwickelt bzw. entwickeln soll (Kraus 2001: 75), wird der OECD-Bericht als „basale Strategiestudie“ (ebd.: 89) mit Blick auf ‚Wissen’ als neuem und zenralen Faktor von Wertschöpfung begriffen: Zu den klassischen Wertschöpfungsquellen von ‚Arbeit’ und ‚Kapital’ tritt nun ‚Wissen’ hinzu (ebd.: 94). Mit dem Gedanken kultureller und gesellschaftspolitischer Entwicklung auf der einen Seite und ökonomisch-technologischer Entwicklung auf der anderen sind zwei wesentliche und antagonistische Grundmotive des ursprünglichen Diskurses um Lebenslanges Lernen benannt, die seit den 1990er Jahren in einem hybriden Amalgam aus berufs- bzw. bedarfsorientierter und kognitiver Selbstoptimierung von Subjekten synthetisiert worden sind. Dabei wurde die politisch-utopische Dimension von Lebenslangem Lernen vor allem im Verlauf der 1990er Jahre abgeschüttelt und in eine individualisierte Version des sich selbst ein Leben lang optimierenden Subjekts transformiert – oder, um es kurz zu formulieren: Eine sozialpolitische Utopie wurde gegen eine subjektpolitische Vision lebenslangen Lernens ausgetauscht. Am Konzept des Lebenslangen Lernens lässt sich schließlich auch erkennen, dass aktuelle ökonomische Zielsetzungen und Programmatiken in Bezug auf Subjekte auch immer einen imaginären, nicht-ökonomischen Kern besitzen, mit dessen Hilfe Akzeptanz erzeugt wird. Nicht nur die Mischung aus pädagogischen und ökonomischen Motiven soll hierbei anreizsteigernd wirken, sondern zur Attraktivität dieses Diskurses trägt auch die ihn auszeichnende anthropologische, man möchte fast meinen, religiöse Dimension bei. Denn durch das untrennbare Ineinander von Leben und Lernen wird gleichsam eine neue Ethik der ökonomischen Lebensführung verkündet, die historisch zu neuen Grenzüberschreitungen aufruft. Analog zur Verknüpfung von religiöser Heilerwartung und säkularer Lebensführung der protestantischen Arbeitsethik am Beginn der kapitalistischen Moderne werden im Zeichen Lebenslangen Lernens die Mauern zwischen Lernen, Arbeit/Ökonomie und Leben eingerissen. Ludwig Pongratz spricht mit Blick auf die reflexive Wende in der Lerntheorie von der „neuen Anthropologie des Selbst-Lerners“ (Pongratz 2006: 170). Diese Formen der strategischen Entdifferenzierung zeichnet im Übgrigen nach Deleuze moderne Kontrollgesellschaften aus, in denen postdisziplinär „die permanente Weiterbildung tendenziell die Schule“ ablöse wie auch die „kontinuierliche Kontrolle das Examen“ (Deleuze 1993: 257).
Entgrenzung und Reformierung im Zeichen Lebenslangen Lernens
Ein Auslöser der Diskussion über Lebenslanges Lernen liegt, wie gesehen, in einem konkurrenten Systemvergleich und damit in einer Logik von Blockbildung und Krise. Die Leistungsfähigkeit westlicher Bildungssysteme wird angesichts der (vermeintlichen) Technologielücke im Vergleich zum Ostblock in Frage gestellt und ein grundlegender Modernisierungsbedarf eingeklagt (Picht 1964). Insofern bildet diese frühe Phase der Ost-West-Beobachtung auch den Kontext für einen ersten internationalen Blick auf Bildung und Bildungssysteme, so dass der inner- und internationale Vergleich und Wettbewerb zu zentralen Legitimationsinstrumenten für Bildungsreformen der 1960er Jahre werden. Bildungssysteme sind seitdem der dauernden Reform unterworfen. Dies betrifft grundsätzlich alle Bereiche des Bildungssystems, also die Elementarbildung, die Primarbildung, die Berufsbildung sowie die Hochschulbildung oder die Weiterbildung. Denn die verschiedenen Subsysteme als Produkte gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse sind, biographisch betrachtet, mit bestimmten Lebensphasen und ganz spezifischen institutionellen Lernräumen verknüpft: Während in Kindheit und Jugend gelernt wird, im Erwachsenenalter gearbeitet, steht das Alter für den Ruhestand (Faulstich 2003: 263). Diese Zuordnung, die durch feste System- und Institutionengrenzen charakterisiert ist, ist seit den 1980er Jahren zusehends in Auflösung begriffen und führt zu einem Veränderungsdruck auf das Bildungssystem. Darüber hinaus wird der gesellschaftliche Wandel durch Modernisierungsprozesse vorangetrieben, wodurch das Verhältnis zwischen Arbeit, Beruf und Bildung neu bestimmt wird. Traditionell galt, dass Schul- und Berufsabschlüsse eng mit dem Arbeitsmarkt bzw. dem Beschäftigungssystem verbunden waren: Es lag eine enge zeitliche, strukturelle und funktionale Koppelung von Leben, Bildung und Beschäftigung vor. Dieser Zusammenhang löst sich vor allem seit den 1990er Jahren auf und wird gegenwärtig neu formiert. Entscheidende Impulse zur Entkopplung gehen von der Ökonomie aus, d.h. veränderten Produktionsformen, Arbeitsmarkt, neuen Berufen und gewandelten Beschäftigungsverhältnissen. Diesen strukturellen Entkopplungen und Transformationen soll nach (bildungs-)politischen Erwartungen vor allem mit individueller Flexibilisierung von Kompetenzen, Qualifikationen und Wissen begegnet werden – so zumindest legt es die Programmatik Lebenslangen Lernens nahe. Nicht nur die Passung von Bildung und Beruf, sondern auch die von Leben, Lernen und Arbeit ist demnach eine vom Subjekt herzustellende Leistung und damit seiner eigenen Verantwortung unterworfen. Während Modernisierungstheorien diese umfassende Transformation funktional als notwendiges individuell-biographisches Risikomanagement deuten, betonen kritische Positionen demgegenüber eine sich durchsetzende Ökonomisierung des Selbst bzw. die zunehmende Spreizung prekärer Arbeits- und Bildungsverhältnisse auf der einen Seite und gut dotierter Wissensarbeiter_innen auf der anderen Seite mit entsprechender (Aus-)Bildung. Klassisch modernisierungstheoretisch argumentierten etwa Kade/Seitter und beschreiben Lebenslanges Lernen im Kontext eines neuen gesellschaftlichen Steuerungskonzepts.
„Moderne Gesellschaften können es nicht dem Belieben und Zufall des Individuellen oder den Gesetzen des Marktes überlassen, ob und in welchem Maße sie über gewolltes Wissen verfügen. Das lebenslange Lernen als Steuerungskonzept setzt somit auf eine Reihe von Steuerungsimpulsen, welche Lernentscheidungen von Individuen beeinflussen und in bestimmte Richtungen lenken (sollen).“ (Kade & Seitter 2007: 138)
Hier wird Lebenslangem Lernen eine Pufferfunktion zugeschrieben, mit dem die Erruptionen von Arbeit und Ökonomie gleichsam auf Subjektseite abgefedert werden sollen. Da die Permanenz dieser Veränderungsprozesse sowohl hinsichtlich der Technologien als auch des notwendigen Wissens und Könnens unterstellt wird, kommt es zu der Behauptung, dass auch der Prozess der Aneignung neuen Wissens und Könnens prinzipiell dauerhaft möglich und notwendig sei. Dies heißt zunächst einmal, dass damit die konstitutive Grenze von Leben und Lernen, wie sie für Disziplinargesellschaften galt, aufgehoben wird. Durch diese Totalisierung des Lernens im Lebenslauf wird Lernen strategisch zu einem Prinzip des ‚Über-/Lebens’ stilisiert, .d.h. nicht, dass in einem wörtlichen Sinne an jedem Ort, zu jeder Zeit „Lernen“ notwendig wird. Vielmehr wird eine individuelle Haltung und Fähigkeit gefordert, sich flexibel auf die neuen Anforderungen einzustellen, also beschäftigungsfähig zu bleiben. Organisierte Bildung zielt programmatisch nicht mehr darauf, umfassend (aus-)gebildete Individuen zu befähigen, sondern Individuen sollen sich lernend und flexibel auf die sich wandelnden Anforderungen einstellen und den Wandel lernend bearbeiten. Es tritt damit – frei nach Richard Sennett – der flexible Mensch auf die diskursive Bühne (Sennett 2007). Mit dem Lebenslangen Lernen geht also einmal die Formalisierung bzw. die Entmaterialisierung des Lernens einher. Die formale und materiale Seite des Lernens treten auseinander und die formale Kompetenzentwicklung wird gegenüber der materialen Qualifikation privilegiert und zum Zweiten erscheint eine neue Subjektivierungsweise auf.
Lebenslanges Lernen als globale Regierungstechnik
Es hat sich gezeigt, dass Lebenslanges Lernen mit neuen Macht- und Subjektivierungsweisen verbunden ist. Es lässt sich daher aus einer machtkritischen Perspektive als eine neue Gouvernementalitätsstrategie beschreiben, d.h. als eine Regierungsstrategie, mit der die Bevölkerung indirekt über die Produktion von Haltungen gesteuert oder regiert wird. Im Anschluss an Foucault lässt sich Lebenslanges Lernen als ein flächendeckendes Programm verstehen, in dem es zentral um die Führung der Selbstführung geht. Pongratz beschreibt in einer Analyse der Entwicklung des Diskurses zum Lebenslangen Lernen die Diskursphasen seit den 1960er Jahren, die das Programm der Gouvernementalität auf den Punkt bringen: Lebenslang lernen dürfen, können, sollen, müssen, wollen (vgl. Pongratz 2006). Die Führung der Selbstführung zielt auf das Wollen der Individuen. In den vorliegenden Gouvernementalitätsstudien zum Lebenslangen Lernen (vgl. bspw. Fejes & Nicol 2008, Klingovsky 2009, Rothe 2009 oder Wrana 2003) wird sichtbar, dass mit dem Lebenslangen Lernen – neben der ökonomisierenden Vereinnahmung des Individuums – zugleich eine Pädagogisierung der Lernenden einhergeht. Soziale Probleme oder Strukturprobleme des Arbeitsmarktes werden mithilfe der Programmatik Lebenslangen Lernens subjektiviert und in individuell-pädagogisch bearbeitbare Problemlagen transformiert. Lebenslanges Lernen als Dauermodus individueller Veränderung verlangt die permanente Passung der Individuen an sich wandelnde Umwelten und ‚Risikolagen’. Die Pädagogisierung betrifft dabei nicht nur die auf Dauer gestellte Schülerrolle, sondern beschreibt auch die Modernisierung der Arbeits- und Alltagswelt mithilfe pädagogischer Interventionen, die sich zu universellen Veränderungs- und Problemlösungsverfahren entwickelt haben (Gruber 2004). Lebenslanges Lernen hat damit eine Universalisierung und Entgrenzung des Pädagogischen und eine Ökonomisierung der Selbstbeschreibungen und Haltungen zur Folge. Diese sind im Kontext Lebenslangen Lernens aufgerufen, ein unternehmerisches Verhältnis zu sich herzustellen, sich als „unternehmerisches Selbst“ zu entwerfen (Bröckling 2007). Zu sich ein ökonomisches Verhältnis zu entwickeln bedeutet hier, sich selbst im Wettbewerb mit anderen zu sehen und in diesem Wettbewerb bestehen zu wollen. Um in diesem Wettbewerb zu bestehen, beobachtet sich das unternehmerische Selbst u.a. im Hinblick auf die Fragen: Was kann ich? Was kann ich noch nicht, was ich können müsste? Wie und wo kann ich das, was ich noch können müsste, unter welchen Bedingungen lernen? Was können die anderen um mich herum? Was können diese noch nicht? Zu sich ein ökonomisches Verhältnis einzunehmen bedeutet, sich selbst zu flexibilisieren. Sich entsprechend den Veränderungen der Anforderungen im Beruf und im Privaten zu entwickeln und anzupassen. Während Anpassung im erziehungswissenschaftlichen Kontext als Gegenbegriff zur Freiheit eingesetzt wurde und wird, ist „Anpassung“ im bildungspolitischen Kontext des Lebenslangen Lernens zu einer kreativen und innovativen Praktik des flexiblen lernfähigen unternehmerischen Selbst geworden. Ein weiterer wichtiger Aspekt des Diskurses um Lebenslanges Lernen ist seine mittlerweile globale Verbreitung und der Umstand, dass das Konzept inzwischen ein „Element der Weltkultur“ geworden ist (Jakobi 2009: 186). Waren es Anfang der 1970er Jahre lediglich 6 Länder von 136, in denen das Konzept in bildungspolitischen Dokumenten auftauchte, so lässt es sich 1993 in 28 von 73 Ländern und 2004 bereits in 78 Länder weltweit nachweisen (ebd.: 174). Vor allem internationale Akteure und Weltbildungskonferenzen haben zu seiner universellen Diffusion beigetragen wie auch die damit einhergehende Überzeugung, dass Lebenslanges Lernen die geeignete „Strategie für die Wissensgesellschaft“ sei (ebd.: 173). Im europäischen Kontext wurde dies 2000 in der imperialen ‚Lissabon-Strategie’ des Europäischen Rates artikuliert, Europa zum weltweit führenden wissensbasierten Wirtschaftsraum zu machen, wozu Lebenslanges Lernen als ein zentrales Instrument der Zielerreichung erachtet wird (ebd.: 180). Diese Entwicklungen verdeutlichen, in welch hohem Maße dieses vermeintliche neue Lernkonzept vor allem politischen und ökonomischen Machtstrategien und Expansionslogiken geschuldet ist, die pädagogisch rationalisiert werden.
Peter Kossack
Literatur
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