Schulen und Ökonomisierung

Öffentliche Schulen gibt es in westlichen Industrieländern seit etwa 150 bis 200 Jahren. Sie wurden eingerichtet, um die feudal-ständischen Strukturen der alten Gesellschaften zu überwinden und die Bevölkerung des jeweiligen Landes mit jenen Kenntnissen, Haltungen und Verhaltensweisen auszustatten, die für die entstehenden bürgerlich-kapitalistischen National- und Verfassungsstaaten notwendig schienen. Als staatliche Institution wurde die Schule dort etabliert, wo die für die Modernisierung von Staat und Gesellschaft erforderlichen neuen Formen, Inhalte und Methoden der Erziehung und des Unterrichts von Privatleuten und Kirchen nicht hinreichend gewährleistet werden konnten.

Die staatlich organisierte Schule hatte mehrschichtige politische und ökonomische Funktionen: Sie sollte die heranwachsenden Generationen in die Kultur, Sprache und Religion des Landes hinein sozialisieren, und sie sollte den einzelnen Individuen ihren je künftigen Platz in der politisch-sozialen Hierarchie wie in der arbeitsteiligen Ökonomie vermitteln. Dabei war und ist die Schule nie autonom, sondern stets „den Ansprüchen und Einflüssen aller Institutionen des öffentlichen Lebens und aller an der politischen Willensbildung partizipierenden Kräfte wie Regierung und Verwaltung, Recht, Wirtschaft und Finanzen, Kirche und Parteien ausgeliefert“ und genötigt, „das so entstandene Konglomerat unter dem Anspruch der Bildung zu rechtfertigen“ (Berg 1973: 11). Heute sehen sich die Nationalstaaten und ihre Institutionen in ein verändertes Umfeld gestellt, das mit dem Schlagwort Globalisierung gekennzeichnet wird. Im gegenwärtigen Stadium der kapitalistischen Weltwirtschaft werden dabei staatlich-öffentliche Schulsysteme, da wo sie noch bestehen, als solche zunehmend in Frage gestellt: Marktinstitutionen wie der Internationale Währungsfond (IWF), die Weltbank, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und die Welthandelsorganisation (WTO) – neben der Europäischen Kommission, Arbeitgeberverbänden, transnationalen Konzernen und ihren Stiftungen, Mainstream-Medien, Expertenkommissionen, Beraterfirmen sowie politischen Parteien, Bundes- und Landesregierungen – betreiben seit rund drei Jahrzehnten eine Delegitimierung öffentlicher Bildungseinrichtungen (nicht nur von Schulen, sondern auch von Kindergärten, Universitäten und Einrichtungen der Erwachsenenbildung): Sie seien nicht hinreichend leistungs- und konkurrenzfähig, außerdem reformunfähig, überhaupt seien private Einrichtungen besser. Begleitet von einer strategisch gewollten, planvollen Unterfinanzierung des öffentlichen Sektors insgesamt, wird auf diese Weise der Privatisierung und Kommerzialisierung auch der Schulen Vorschub geleistet. Ein OECD-Strategiepapier benennt die entsprechende Taktik so:

„Um das Haushaltsdefizit zu reduzieren, sind sehr substanzielle Einschnitte im Bereich der öffentlichen Investitionen oder die Kürzung der Mittel für laufende Kosten ohne jedes politische Risiko. Wenn Mittel für laufende Kosten gekürzt werden, dann sollte die Quantität der Dienstleistung nicht reduziert werden, auch wenn die Qualität darunter leidet. Beispielsweise lassen sich Haushaltsmittel für Schulen und Universitäten kürzen, aber es wäre gefährlich, die Zahl der Studierenden zu beschränken. Familien reagieren gewaltsam, wenn ihren Kindern der Zugang verweigert wird, aber nicht auf eine allmähliche Absenkung der Qualität der dargebotenen Bildung, und so kann die Schule immer mehr dazu übergehen, für bestimmte Zwecke von den Familien Eigenbeiträge zu verlangen, oder bestimmte Tätigkeiten ganz einstellen. Dabei sollte nur nach und nach so vorgegangen werden, z.B. in einer Schule, aber nicht in der benachbarten Einrichtung, um jede allgemeine Unzufriedenheit der Bevölkerung zu vermeiden“ (Morrisson 1996: 28).

Um den Prozess der Ökonomisierung der Schule angemessen zu analysieren, sind begriffliche Unterscheidungen nötig. Beispielsweise bedeutet nicht jede Form der Privatisierung zugleich eine Ökonomisierung. So gibt es in Deutschland seit langem etwa katholische und evangelische Privatschulen, die staatlich anerkannt und großenteils auch staatlich finanziert sind. Das hat mit Ökonomisierung wenig zu tun. Andere Formen der Privatisierung hingegen bestehen z.B. in der Trägerschaft durch kommerzielle Bildungsanbieter: Dabei werden Schulen wie kapitalistische Wirtschaftsunternehmen geführt und betriebswirtschaftlich gemanagt, und sie sollen Profit erwirtschaften. Solche Formen fallen selbstredend unter den Begriff der Ökonomisierung – ebenso wie Bildungsgutscheine, die Relativierung des Werbeverbots an Schulen (in den deutschen Bundesländern zuerst in Berlin 1997) und eine weitere, zunehmend verbreitete Privatisierungsvariante, nämlich die so genannten Public Private Partnerships (ppp): öffentlich-private Partnerschaften (ÖPP) zwischen Einrichtungen des öffentlichen Sektors, darunter den Schulen, und Wirtschaftsunternehmen (vgl. Liesner 2006).

Wieder andere der vielfältigen Formen und Ebenen der Privatisierung – von der Abschaffung der Lehrmittel- und Gebührenfreiheit bis zu privat finanzierter Schülernachhilfe und Home Schooling – fallen nur unter bestimmten Bedingungen unter den Ökonomisierungsbegriff, z.B. wenn Nachhilfe von kommerziellen Dienstleistern erbracht wird (und nicht einfach von der Nachbarstochter). In der Tat stellt sich angesichts solcher Tendenzen die Frage, Ist die Schule ewig? (vgl. Tillmann 1997).

Ähnlich wie Kommodifizierung (zu einer Ware machen) und Monetarisierung (zu Geld machen, durch Preise bewerten) meint Kommerzialisierung die Einbeziehung von Bildungseinrichtungen oder bildungsbezogenen Dienstleistungen, wie etwa Bildungstests, in den geldvermittelten Handel. Diesen regelt in den Mitgliedstaaten der WTO, auch in Deutschland, seit 1995 das General Agreement on Trade in Services (GATS). Das GATS ist „das erste multilaterale Abkommen zur fortlaufenden Liberalisierung des internationalen Dienstleistungshandels und erfasst grundsätzlich alle Dienstleistungsbereiche“; es „ermöglicht den WTO-Mitgliedstaaten eine ‚maßgeschneiderte’ Liberalisierung, d.h. individuelle Festlegung des Liberalisierungsniveaus in den unterschiedlichen Dienstleistungssektoren“ (BMWI o.J.). Diese und ähnliche Prozesse werden auch als Deregulierung bezeichnet.

Die Beseitigung internationaler Handelshemmnisse durch das GATS-Abkommen hat im Bildungs- und Wissenschaftsbereich – wie in anderen Wirtschaftszweigen – zur Folge, dass nationalstaatliche Schutzmaßnahmen, je nach politischem Willen, minimiert oder ganz eliminiert werden können. So können beispielsweise Maßnahmen zur Sicherung von Standards im öffentlichen Interesse oder zur Verhinderung unerwünschter sozialer Auswirkungen wegfallen, weil sie als Wettbewerbshindernisse gelten. Zum selben Zweck – der Beseitigung von Hindernissen für Markt und Wettbewerb, also der Erleichterung von Kapitalakkumulation und -verwertung – erhalten inländische, aber auch ausländische kommerzielle Anbieter Zugriff auf die für öffentliche Aufgaben vorgesehenen Haushaltsbudgets. Denn wie überall, wo neben staatlichen Bildungsinstitutionen auch private Träger zugelassen sind (und das ist im Schulwesen der Fall), können – gemäß dem GATS – kommerzielle Anbieter geltend machen, dass die staatliche Finanzierung von Schulen für sie einen unzulässigen Wettbewerbsnachteil darstellt. Sie haben somit Anspruch auf entsprechende Zuschüsse aus den öffentlichen Haushalten.

In der Konsequenz bedeutet dies: Selbst wenn die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung eines Landes es politisch wollte (ein Problem besteht allerdings darin, dass sie über das GATS-Abkommen usw. sehr wenig weiß), wäre Welthandel mit Bildung als warenförmiger Dienstleistung nicht ohne weiteres rückgängig zu machen. Zahlreiche GlobalisierungskritikerInnen weisen in diesem Zusammenhang auf die Gefahr einer sich weltweit verschärfenden Kluft zwischen Arm und Reich hin. Denn an Marktgeschehen kann nur teilnehmen, wer über genügend Geld dazu verfügt.

Dass die Wirkung solcher Regelwerke, wie sie übrigens auch die EU-Binnenmarktpolitik ausdrücklich vorsieht, im Schulwesen nicht längst sichtbarer wird, als es schon der Fall ist (etwa daran, dass Unternehmen der Bildungsindustrie in größerer Zahl auf den Markt drängen), hat vermutlich vor allem zwei Gründe. Zum einen liegt es daran, dass es offensichtlich nicht so einfach ist, aus den grundsätzlich personal- und zeitaufwändigen Prozessen der Erziehung und Bildung nennenswerten Profit zu erwirtschaften. Zum anderen liegt es daran, dass OECD-Mitgliedstaaten wie Deutschland mit den groß angelegten PISA-Tests derzeit einen unauffälligeren Weg der Ökonomisierung der Schulen vorziehen, denn als solche erkennbare Formen der Privatisierung (wie z.B. Bildungsgutscheine) haben es hierzulande immer noch schwer. Dass hingegen auch mit Hilfe der OECD-PISA-Studien die Einbeziehung der Schulen in Markt und Wettbewerb vorangetrieben wird, ist nicht ohne weiteres als Privatisierung und Ökonomisierung erkennbar. Diese Variante jedoch findet, obwohl sich inzwischen kritische Stimmen mehren, auch in Teilen der Erziehungswissenschaft und der empirischen Bildungsforschung noch viel Zustimmung.

Den Königsweg der Ökonomisierung der Schule markiert in OECD-Ländern wie Deutschland, neben PISA und ÖPPs, der Einsatz von New Public Management. Das sind betriebswirtschaftliche Steuerungsmechanismen wie Ziel- und Leistungsvereinbarungen, Kennziffern und Controlling, Ranking, Rating, Benchmarking, Qualitätsmanagement, Evaluation. Für die Etablierung dieses Managementmodells an Schulen haben sich in Deutschland vor allem die Bertelsmann Stiftung, die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall sowie der im Auftrag der bayerischen Wirtschaft agierende Aktionsrat Bildung stark gemacht (vgl. Lohmann 2007a, b).

Wo das neue Managementmodell zum Einsatz kommt, war zuvor vorgeblich die Effizienz zu gering, das Reformtempo zu niedrig und die Verwaltung zu schwerfällig. Dass es in Wirklichkeit vor allem um Kontrolle und Disziplinierung des in Bildungsinstitutionen tätigen Personals geht, verrät wiederum ein OECD-Papier: „Die OECD empfiehlt Deutschland höheres Reformtempo: Will Deutschland sein Wirtschaftswachstum halten, muss es vor allem das Bildungssystem verbessern“ und „seinen Aufschwung jetzt absichern. Es gebe noch ‚beträchtlichen Spielraum zur Anhebung der Pro-Kopf-Arbeitsstunden und zur Steigerung der Produktivität’, erklärte die OECD in ihrem […] Deutschlandbericht. ‚Das Hauptaugenmerk muss auf der Erhöhung der geringen Zahl von Arbeitsstunden je Beschäftigtem liegen’“ (SZ 2008). Neben der Arbeitszeiterhöhung wird zudem ein Abbau des Kündigungsschutzes empfohlen: „Wichtige Herausforderungen für die Bundesregierung seien die ‚Lockerung der strengen Beschäftigungsschutzbestimmungen für reguläre Arbeitsverhältnisse und die Vermeidung zu hoher Mindestlöhne’“ (ebd.).

Strategisch zentral ist in diesem machtpolitischen Umfeld die Verwendung von Euphemismen – wie Autonomie, Eigenverantwortung, Wissensgesellschaft – und Umdefinitionen: von Bildung in Humankapital, von Kenntnissen und Fertigkeiten in Kompetenzen, von Bildung als Bereitschaft zur Investition in die eigene Zukunft. Sie helfen, der Bevölkerung die Ökonomisierung schmackhaft zu machen und sie in den Wertvorstellungen, Haltungen und Verhaltensweisen der Individuen zu verankern. Denn nicht nur Bildungsinstitutionen, sondern auch die sich bildenden Subjekte selbst sollen möglichst bruchlos unter die Logik kapitalistischer Verwertung gebracht werden (vgl. Höhne 2007). Ökonomisierung ist insofern ein Prozess, der mehr umfasst als die Übernahme von Steuerungsregeln aus dem Unternehmensbereich: „Die Ökonomisierung der Bildung bedeutet vor allem eine historisch neue Dimension des Umgangs mit der Zeit der Menschen, einen Zugriff auf die Tageszeit, die Jahreszeit, die Lebenszeit von der frühen Kindheit bis ins Alter“ (Zymek 2005).

Die Ökonomisierung von Schulen und anderen Bildungsinstitutionen verläuft allerdings nicht bruchlos. Im Gegenteil: Wie bei Banken und Autoindustrie gibt es mittlerweile auch in der Bildungsindustrie Insolvenzen. Über sie wird in den deutschen Medien jedoch eher selten berichtet, denn mehr davon würde die herrschende Agenda stören. Aber nicht nur von Banken, sondern auch von der Bildungsindustrie wird inzwischen nach dem Staat gerufen, wenn es darum geht, Verluste zu sozialisieren. Hier zunächst zwei Beispiele aus anderen OECD-Ländern:

Im Sommer 2004 brach einer der größten kommerziellen Betreiber von Charterschulen (i.e. Schulen in ‚freier’ Trägerschaft) in den USA zusammen, die California Charter Academy. Die Kinder standen von einem Tag auf den anderen ohne Schule, die Lehrer ohne Einkünfte da. 100 Millionen US-Dollar waren dem Unternehmen für den Aufbau seiner Schulkette vom kalifornischen Staat gewährt worden. Der CCA-Geschäftsführer war nach dem Bankrott nicht mehr erreichbar. Der Superintendent eines kalifornischen Schulbezirks berichtete von hysterischen Eltern, die sich schleunigst um andere Schulen bemühen mussten, und von Gläubigern, die aus den Schulgebäuden herausholten, was nicht niet- und nagelfest war. Schülerakten lagerten mit ungewissem Schicksal in verlassenen Schulgebäuden; Investoren durchsuchten die Geschäftsunterlagen des Unternehmens nach Erklärungen für den Zusammenbruch. Das kalifornische Unterrichtsministerium versprach, die Sache zügig zu bereinigen (vgl. California Department of Education 2004). – Vom vergleichbaren Ende der Hessen International School (HIS) berichtete die Frankfurter Rundschau (FR 2009). 2008 kam eine ähnliche Nachricht aus Australien, diesmal in direkter Verbindung mit der weltweiten Finanzkrise:

„Banken machten die Kindertagesstättenkette ABC Learning Centres zum börsennotierten Milliardenkonzern. Mit der weltweiten Kreditkrise ist die Blase geplatzt, und das Unternehmen steht vor der Pleite. Tausende Kinder stehen heute ohne Betreuung da. Lange Zeit war er die Wirtschaftsikone in ‚down under’: Der ‚schnelle Eddy’, wie der australische Selfmade-Millionär Eddy Groves von Geschäftsfreunden genannt wird. Reich wurde er mit der cleveren Idee, eine private Kindertagesstätte aufzubauen. Groves war damals 22 Jahre alt, es waren seine ersten Schritte in die Welt der Pädagogik“ (ZDF Auslandsjournal 2009).

2001 wurde Groves durch den Börsengang seines Unternehmens, zu dem weltweit zuletzt 2.200 Kindergärten gehörten, zum Multimillionär. „Heute weiß man: der Konzern war aufgebaut auf Krediten und Schulden“ (ebd.). Wie berichtet wird, hatte Groves dank eines scheinbar unendlichen Kreditflusses innerhalb von zwei Jahren die Zahl seiner Tagesstätten vervierfacht. „Ende 2004 war ABC Learning deshalb bereits mit rund 111 Millionen australischen Dollar verschuldet. Drei Jahre später war es das Zwanzigfache davon: 2,2 Milliarden Dollar. Groves baute ein globales Franchisesystem um die Marke ABC auf. Das tauchte nie in der Bilanz auf – auch nicht deren Schulden. Als die Buchprüfer Alarm schlugen, stürzte die Aktie ins Bodenlose. ABC war am Ende. Zwanzig Jahre dauerte der Aufstieg zur Marke, lediglich zehn Tage der Absturz. ‚Das ging aber schnell, Eddy’, frotzelte die Sydney Morning Herald“ (ebd.). Nun rufen Eltern nach staatlicher Hilfe, und die Warteschlangen vor den übrigen Kindergärten wachsen.

In Deutschland wird die Überführung des Managements von Bildungsinstitutionen in private Trägerschaft u.a. von dem schon erwähnten Aktionsrat Bildung (vgl. 2007:153) unter Federführung des Erziehungswissenschaftlers und Universitätspräsidenten Dieter Lenzen vorgeschlagen. Zwar ist nicht jede Privatschule eine kommerziell betriebene. Aber in dem skizzierten Umfeld der Ökonomisierung lohnt es sich inzwischen auch für Deutschland, den Blick auf Privatschulen zu lenken: Seit 1995 ist die Schülerzahl an Privatschulen hierzulande stetig gestiegen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts (2009) besuchten im Schuljahr 2007/08 rund 675.000 Schülerinnen und Schüler private allgemein bildende Schulen (7,1%). Das erscheint zwar noch nicht viel; aber im Schuljahr 2008/9 waren es schon fast 691.000 (7,7%), und der Trend setzt sich fort. Nach Meinung der OECD jedoch nicht schnell genug: „Immer noch wird ein großer Teil der verfügbaren öffentlichen Ressourcen für den Bildungsbereich verwendet“ (OECD 2009: 6).

Neue Gesetze sorgen dafür, dass Privatschulen von den Bundesländern mehr staatliche Förderhilfe bekommen als öffentliche Schulen, und den Kommunen werden umfangreichere Zahlungen an die Privaten auferlegt. Solche Maßnahmen – eigentlich unschwer als Umverteilung öffentlicher Steuergelder zugunsten privater Investitionsförderung zu erkennen – stehen in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (kritisch dazu der Verfassungsrichter Broß 2007). So wurde 2006 beispielsweise in Hessen beschlossen, dass die dortigen 152 Privatschulen rund 5,5 Millionen Euro mehr Investitionsförderung vom Land erhalten und die Kommunen ihre Ausgleichszahlungen an private Schulen zusätzlich um 4,5 Millionen Euro steigern sollen. Der Verband Deutscher Privatschulverbände (VDP) spricht von „einem Schritt in die richtige Richtung, aber noch nicht weit genug“ (zit.n. FR 2006).

Im Januar 2008 fand in einem Hamburger Hotel die Auftaktveranstaltung zur Gründung einer weiteren Phorms-Schule statt. Phorms (der Name setzt sich zusammen aus den Wörtern Form und Metamorphose) eröffnete 2006 die erste Schule in Berlin Mitte: „Die frisch eröffnete Schule gehört einer Aktiengesellschaft. Phorms heißt die Schule, und Phorms heißt die AG. Ihre Besitzer wollen mit dem Unterrichten von Kindern Geld verdienen. […] 23 Aktionäre hat Phorms. Die meisten von ihnen sind Manager und Unternehmer. Etwas mehr als eine Million Euro haben sie aus ihrem Privatvermögen bislang zusammengebracht“ (FAZ 2006). 2007 gab es weitere Phorms-Schulen in München, Frankfurt und Köln, Ende 2008 außerdem Standorte in Berlin-Süd, Hamburg und Hannover. Meistens sind es Grundschulen, in Einzelfällen mit Kindergarten oder auch mit Gymnasium; weitere sind in Vorbereitung. Das sieht wie der Beginn einer Erfolgsgeschichte aus.

„Phorms will einen relevanten Beitrag zur besseren Bildung der Generation unserer Kinder leisten. Als Urheber der Idee sind wir als Team von Unternehmern aus Deutschland gestartet, die selbst Eltern sind. Mit Phorms wollen wir eine starke Marke für Bildung aufbauen, der Eltern und Pädagogen vertrauen. Die Phorms Management AG hat das Ziel, ein Netzwerk von Schulen in Deutschland und im Ausland aufzubauen“ (Phorms o.J.).

Eine „Marke für Bildung“ – das klingt wie Unternehmenswerbung und ist es auch. Das pädagogische Leitbild der Phorms-Schulen besteht ebenfalls ausdrücklich darin, das „Unternehmerische“ im Kind zu fördern.

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland garantiert staatlicherseits die Möglichkeit zur Gründung von privaten Schulen. Jedoch dürfen Kinder nicht mittels der Höhe des Schulgeldes von deren Besuch ausgeschlossen werden, denn Art. 7, Abs. 4, GG verbietet die soziale Segregation von Schülern aus wirtschaftlichen Gründen. Dem trägt man bei Phorms Rechnung – allerdings ohne befürchten zu müssen, dass die Klientel nicht unter sich bleibt: Das Schulgeld an der Berliner Phorms-Grundschule „richtet sich nach der Höhe des Einkommens der Eltern. 221 Euro monatlich zahlen Berliner Eltern, die bis 20.000 Euro Jahreseinkommen haben. Linear steigt es dann auf 670 Euro für Eltern mit einem Jahreseinkommen von mehr als 150.000 Euro. Dazu kommt eine Gebühr für die Hortbetreuung – sie ist ebenfalls einkommensabhängig gestaffelt. Insgesamt liegt das Schulgeld damit zwischen 220 und 864 Euro im Monat. Das Land Berlin subventioniert für die Ganztagsbetreuung den Unterricht mit 312 Euro pro Kind. 60.000 Euro laufende Kosten hat die Schule pro Monat. 50.000 Euro nimmt sie derzeit ein. ‚Die Schule rechnet sich ab 110 bis 120 Kindern’“ (FAZ 2006; vgl. GEW 2007).

„Mehr als New Economy. Die 50 interessantesten Gründer“, titelte damals das Handelsblatt und half so ein wenig mit bei der Werbung für die hierzulande noch recht neue Geschäftsidee: „Die Idee für eine neue Schulform kam von Alexander Olek, 37, Gründer der Biotech-Firma Epigenomics. Er erinnerte sich an seine Probleme auf dem Gymnasium. Und weil sein Sohn ins schulfähige Alter kam, entwickelte er ein Konzept für eine bessere Schule. Damit begeisterte er die Boston-Consulting-Group-Beraterin Beste, 38. Sie entwickelte aus der Idee das Schul-Franchise-System Phorms: Privatschulen sollen deutschlandweit mit Ganztagsbetrieb, zweisprachigem Unterricht und individueller Förderung eine Alternative zu staatlichen Lehranstalten bieten“ (Handelsblatt 2007).

„Mehr als New Economy“ – das lässt sich auch wie „der noch größere Börsencrash“ lesen, aber das sind die neuen Akteure, denen Mittelschichteltern vertrauen.

Warum jedoch optieren Mittelschichten von Chile über Ontario und Neuseeland (zu diesen Länderbeispielen vgl. Lohmann 2002) bis Hamburg für Privatschulen? Hauptursache ist die gezielte, strategisch langfristig angelegte Unterfinanzierung der öffentlichen Bildungssysteme; sie war und ist überall ein notwendiger und zugleich entscheidender Schritt für die Privatisierung und Ökonomisierung des öffentlichen Sektors insgesamt. Hierbei geht es darum, die Leistungsfähigkeit öffentlicher Einrichtungen so lange zu verschlechtern, bis das Gros der Staatsbürger davon überzeugt ist, dass „private eben doch besser sind“ (vgl. dagegen Weiß 2009).

Aufschluss über die durch den herrschenden Diskurs erzeugten sozialpsychologischen Effekte gibt die Sinus-Studie Eltern unter Druck (2008; vgl. 3sat Nano 2008). Sie macht auf den neuen Förderboom aufmerksam – von Babyschwimmen über Englischkurse bis zu Mathematik schon für Vierjährige. Eine unlängst eröffnete private Englischfrühförderschule in Hannover wurde von Eltern in dem Stadtteil bereits dringend erwartet. Die Medien, hinter denen bekanntlich wiederum Eigentümer- und Kapitalinteressen stehen, heizen den Förderboom kräftig an. Kritische Stimmen berichten von Mittelschichteltern, die Sorge haben, dass ihre Kinder eines Tages unter der Brücke schlafen müssen; von psychologischen Beratungsstellen, in denen sich die Fälle von schulischem Leistungsdruck und Versagen bei Kindern mehren; von Eltern in einem Klima von Angst und Leistungsdruck, das sie unbewusst an ihre Kinder weitergeben; von der Hoffnung auf Frühförderung als Rettungsanker vor dem sozialen Abstieg:

„Seit dem PISA-Schock wird gefördert auf Biegen und Brechen. […] Von den Erzieherinnen hören wir, dass PISA die große Markierung war. Seitdem stehen Eltern unter Bildungsdruck. Die Kinder sind oft regelrecht verplant. […] Es ist ein Mittelschichtsphänomen: Bildung als Abgrenzung. Bildung soll das gesellschaftliche Abrutschen verhindern. Die Sinus-Studie Eltern unter Druck hat herausgefunden, dass Eltern der bürgerlichen Mitte in vielfältiger Form Bildung und Lernhilfen einkaufen, weil sie kein Vertrauen haben, dass das öffentliche Bildungssystem ihre Kinder angemessen fördert“ (ebd.).

Eben darin besteht der Sinn der Sache. Erfahrungen mit Privatisierung und Ökonomisierung von Schulen liegen inzwischen aus zahlreichen Ländern und Regionen vor. Auch wenn die Resultate im einzelnen unterschiedlich ausfallen – diese drei Effekte hat die weltweite Umstrukturierung der Bildungseinrichtungen in jedem Fall: Überall da, wo sie stattfindet, sinken, erstens, die Staatsausgaben für den Bildungssektor, verschärft sich, zweitens, die soziale Ungleichheit im Zugang zum Wissen noch einmal drastisch, stellen, drittens, Mittelschicht-Eltern fest, dass es ihnen gefällt, wenn ihre Söhne und Töchter nicht mehr zusammen mit Krethi und Plethi die Schulbank drücken müssen. Überall sind es besonders die bürgerlichen Mittelschichten, die, dem Druck sich verschärfender sozialer Polarisierung im ‚Zeitalter der Globalisierung’ ausgesetzt, sich Rettung vor dem Absinken in die Billiglohnstrata und Aufstieg in die Dienstklassen der Superreichen erhoffen. Auf diese und ähnliche reale Zwangslagen, die die Haltungen und Einstellungen großer Teile der nationalen Bevölkerungen nicht unberührt lassen, können die Marktinstitutionen weltweit bauen.

 Ingrid Lohmann

Literatur

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