PISA

Einleitung

Das Schlagwort „PISA”, Kurzfassung der PISA-Studie (Program for International Student Assessment) der OECD (Organization for Economic Cooperation and Development) ist im Rahmen des Paradigmenwechsels von Bildung zum Mythos und diskursiven Katalysator geworden. Während Deutschland angesichts desaströser Ergebnisse im Jahre 2001 in den Zustand eines „PISA-Schocks” (Karg 2005) bzw. „PISA-Sturms” (Niemann 2010) verfiel, bei dem das Schlagwort zum Inbegriff eines versagenden Schulsystems wurde, blieb bis heute eine echte diskursive Auseinandersetzung mit PISA, seinen Konzepten und Schlussfolgerungen aus (Liebau 2005). Stattdessen ist PISA zum Bindemittel für eine breite Zahl weiterer Schulreformdiskurse geworden, die mit Verweis auf PISA („PISA hat gezeigt, dass…”) legitimiert werden: Der Notwendigkeit zur Qualitätssicherung im Bildungswesen, der Umstellung auf Kompetenzorientierung und der Implementierung von Bildungsstandards oder Vergleichsarbeiten wie etwa VERA. PISA symbolisiert den Übergang von einer normativ begründeten Input- hin zu einer empiristischen Outputsteuerung des Schulsystems (von Bogdandy/Goldmann 2009), wobei das PISA-Ranking einen Sieger- und Verliererländer konstruierenden Wettbewerb ins Leben gerufen hat, der in regelmäßigen Abständen überprüft, wie weit der Lernstand der teilnehmenden Länder vorangeschritten ist (Hartong/Münch 2012).

Geschichte von und Hintergründe zu PISA

Der zentrale Aktionsfokus der OECD liegt schon dem Namen nach auf Wirtschaft, ökonomischem Wachstum und wirtschaftlich-globaler Zusammenarbeit, während Bildung als ein daran anteiliger Faktor, als Mittel bzw. als Ressource des Menschen innerhalb dieses wirtschaftlichen Zusammenhangs verstanden wird (OECD 2009). Hauptsächlich zuständig für internationale Bildungsfragen war bis in die 1980er Jahre hinein hingegen die UNESCO (Flitner 2006: 256). Schon früh diagnostizierte die OECD jedoch einen bildungsökonomisch begründeten Mangel an naturwissenschaftlicher und ingenieurstechnischer Bildungsausrichtung vieler Mitgliedsländer. Bereits Mitte der 1950er Jahre führten von der OECD beauftragte Fachleute erste Länderexamina mit dem Ziel internationaler Ergebnisvergleiche durch. Die Standardisierung von Bildungsdaten und die Klassifizierung von Bildungstypen und -systemen wurden damit schrittweise auch zu Kernaufgaben des OECD-Bildungsressorts (Hartong 2012: 79ff). Dennoch kämpfte die OECD an vielerlei Fronten um die Anerkennung ihrer Bildungs-Programmatik, sodass die in den 1960er Jahren angestrebte Entwicklung eines internationalen Bildungsindikatorenprogramms bis in die 1980er Jahre wieder eingestellt wurde. Im Zuge des schockierenden Bildungsberichts „A Nation at Risk” setzten die USA (mit Unterstützung von Frankreich) die OECD schließlich gezielt unter Druck, das Programm wieder aufzunehmen (Leibfried/Martens 2008: 8). 1988 entwickelte die OECD in Zusammenarbeit mit der International Association for the Evaluation of Educational Achievement (Durchführer der TIMSS- und PIRLS-Studie) das Indikatorensystem INES (International Indicators of Educational Systems) und hieran anschließend die PISA-Studie, welche nicht nur vorhandene Daten zusammentrug und kategorisierte, sondern eine eigene Erhebung zu Kompetenzen 15-jähriger Schüler_innen vorsah. Die PISA-Studie misst seitdem im dreijährigen Turnus die mathematischen, naturwissenschaftlichen sowie die Lesekompetenzen von Schüler_innen rund um den Globus. Die Teilnehmerzahl der Länder wächst zunehmend; die Studie (und damit die Rolle der OECD) wird kontinuierlich ausgebaut, indem beispielsweise Schlüsselkompetenzen oder Hintergrundinformationen – wie etwa schülerisches Lernverhalten – mit einbezogen werden. Die OECD selbst ist hierbei zwar der Träger der Studie; entwickelt, an die OECD verkauft und durchgeführt wird sie jedoch von einem globalen Akteursnetzwerk der „Bildungsindustrie” (z.B. ACER oder dem Education Testing Service, Flitner 2006: 246ff), denen durch PISA eine neue Form der „Wertschöpfung durch Bildung” ermöglicht wird.

Die Konstruktion eines Mehrebenen-Netzwerks von Agenten des Wandels durch PISA

Die PISA-Studie wird zwar von der OECD verwaltet und als Benchmarking-Produkt wissenschaftlicher Experten beworben, die Studienpraxis erzeugt jedoch eine neue, machtvolle und über die Wissenschaft hinausgehende Netzwerkstruktur von global bis lokal und damit einen Transferkanal in die Länder hinein (Hartong/Schwabe 2013). Denn bei PISA vereinen sich Politik und Wissenschaft zu einem „joint knowledge space” (Olsen 2007), indem Probleme definiert und gleichzeitig Lösungsansätze geliefert werden. Ein Beispiel für solche Agenten des Wandels sind die Nationalen Projektmanager, die in jedem Teilnehmerland für die (beaufsichtigte) Durchführung der Studie ernannt und geschult wurden. Bei der Kanalisierung von Reform werden diese Akteure zu Entrepreneurs, die nicht nur auf internationaler Ebene (etwa innerhalb der PISA-Konsortien und Schulungen), sondern ebenso auf nationaler und Länderebene für eine Akzeptanz der Studie sorgen. Vor allem in Ländern, wo die bildungspolitischen Akteure durch die Ergebnisse der Studie massiv unter Handlungsdruck geraten und entsprechend mit einer Verstärkung „evidenzbasierter” Bildungsforschung reagieren, ist die Rolle dieser Akteure nicht zu unterschätzen (die Einführung des nationalen Bildungsberichts ist hierfür ein Beispiel).

Bildung als kulturunabhängige Kompetenz

Der von PISA angesetzte Bildungsbegriff wurde gerade in den letzten Jahren umfassend problematisiert. Hierbei zu nennen ist v.a. die Verkürzung auf einen Kompetenzbegriff als ökonomisch-funktionalen Bildungsbegriff (Liebau 2005, Parreira do Amaral 2011: 209) mit dem Resultat eines Testens von Testfähigkeit (Meyerhöfer 2007) beziehungsweise von rein kognitiver Intelligenz („g-Faktor”, Bodin 2007: 32). Vor allem im Bezug auf die Messung von Lesekompetenz mittels der Simulation von Lesesituationen (Artelt et al. 2004) wurde die besagte Verkürzung an vielerlei Stelle nachgewiesen (Eigler 2004, Karg 2005). Dass die wachsende Kritik nichts an der Fortdauer der Studie ändert, zeigt, wie stark PISA Teil eines globalen Bildungsregimes (Münch 2009) geworden ist, das die Welt mit einem Kompetenzdiskurs überzogen hat, der für ein kulturunabhängiges, lebenslanges Unternehmertum einzelner Bildungsindividuen steht. Entsprechend ist PISA lehrplan- und damit kulturunabhängig; das Augenmerk liegt vielmehr auf kognitiven und sozialen Fähigkeiten, die sich weltweit „anwenden” lassen.

Diskurseffekte von PISA

Zunächst wirkt PISA mittels der Konstruktion eines „Problem”-Diskurses (von Bog-dandy/Goldmann 2009) – kein Akteur der Bildungspolitik kann sich entsprechend von einer notwendigen „Reaktion” auf PISA ausnehmen (Toman 2011). Der Instrumentalisierung von PISA als Catch-All-Begriff steht jedoch die gezielte Nutzung des Mythos´ PISA durch Akteure gegenüber, die der Dringlichkeit von Bildungsreform neuen Nachdruck verleihen konnten (PISA als Wahrheit, der man sich stellen muss). Teil dieser Bildungsreformen ist die gezielte Neuausrichtung auf datenbasiertes Bildungsmonitoring und seine Etablierung im Diskurs – mit der Folge von Machtverschiebungen, bei denen Diejenigen an Macht gewinnen, die Kennzahlen liefern können. Im Regelfall gehören diese Akteure (nicht nur in Deutschland) zu einer neuen Generation von Bildungsforschern, die sich im Zuge einer „realistischen Wende 2.0” (Raidt 2010) auf sogenanntes large-scale-assessment fokussiert haben (siehe auch Eckert 2004). Sie werden zunehmend autorisiert in Bildungsfragen zu sprechen, wohingegen diejenigen, die mit Humboldt oder Bildung als Selbstzweck argumentieren, als Blockierer und Traditionalisten „gelabelt” werden (Hartong 2012). Diese diskursive Verschiebung schränkt die Kritik am Unternehmen PISA gravierend ein, indem sie in der Regel auf Fragen der Umsetzung von Schulreform oder auf finanzielle Probleme reduziert wird. In diesem Moment wird die implizite Akzeptanz der ökonomisch gelagerten Sichtweise auf Schule akzeptiert. Ein weiterer empirisch beobachteter Diskurseffekt ist die länderspezifische Rezeption von PISA in den Bundesländern bzw. „durch die interne Logik der Bildungspolitik“ (Tillmann et al. 2008: 380), bei der eine interpretatorische Angleichung der PISA-Ergebnisse an die jeweilige bildungspolitische Tradition eines Landes vorgenommen wurde. Viele Reformschritte, die vermeintlich als Folge von PISA deklariert wurden, ließen sich aus Reformdiskurse und bildungspolitischen Maßnahmen erklären, die vor der ersten PISA-Untersuchung lagen (ebenda: 382). Dies trifft für so unterschiedliche „Antworten” auf PISA zu wie das rheinland-pfälzische Ganztagsschulprogramm oder die Einführung zentraler Prüfungen in Brandenburg.

Zur Problematik von und Kritik an PISA

Über die Kompetenz-Kritik hinaus ist PISA in mehrerer Hinsicht problematisch: Zunächst können seine Eignung als Messinstrument sowie die methodische Gestaltung an sich zur Diskussion gestellt werden. Des Weiteren erheben die PISA-Autoren zwar offiziell keine normativen Inhalts-Ansprüche, sondern dezimieren stattdessen radikal auf eine ökonomisch begründete, kulturneutrale Vergleichbarkeit, auf der anderen Seite forciert die Gesamtanlage von PISA gleichzeitig die Überfrachtung der Studie als (Allgemein-) Bildungsmaßstab (Messner 2003). Eine offene Diskussion fehlt an dieser Stelle, wobei definitiv eine Rolle spielt, dass die PISA-Aufgaben unter Verschluss gehalten werden und sich die PISA-Projektmanager entsprechend bedeckt halten (Hopmann/Brinek 2007). In dieser ambivalenten Gestaltung ist PISA ein Machtinstrument beziehungsweise ein Großunternehmen der globalen Bildungsindustrie (sogenannter Education Assessment Agenturen) (Münch 2009: 7, Jahnke/ Meyerhöfer 2007). Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Zahl der PISA-Kritiker bedeutend zugenommen hat. Die vielversprechenste Frage ist hierbei wohl, wer PISA wie und in welchem Zusammenhang positioniert (hat):

„PISA muss […] als Versuch rezipiert und bewertet werden, Bildungssysteme an funktionalen Kriterien zu messen, um diese – von der bisherigen (besonders von der deutschen) Bildungsdiskussion bisher nicht sehr breit rezipierten oder gar akzeptierten – Kriterien nunmehr unter Umgehung einer breiten Diskussion durchzusetzen. […] Es geht der Studie nicht um Messung, sondern um Normierung; nicht um Diagnose, sondern um Steuerung” (Ladenthin 2003).

Sigrid Hartong

Literatur

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  • Eigler, Gunther (2004): Lesen jenseits von PISA – Beobachtungen. In: Schwarz, Bernd/ Eckert, Thomas (Hrsg.): Erziehung und Bildung nach TIMSS und PISA. Frankfurt am Main: Peter Lang, S. 27–62.
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