Es wird ein Markt mit unterschiedlichen Gewürzen gezeigt.

4. Privatisierung und Vermarktlichung

Quelle: Thomas Höhne

Zitationsvorschlag:
Höhne, Thomas: Bildung als öffentliches und/oder privates Gut?
Ökonomisierende Veränderungen im Feld der Bildung,
4. Privatisierung und Vermarktlichung,
URL: https://bildungalsoeffentlichesgut.fernuni-hagen.de
[Datum Zugriff]

4.1 Bildung als ‚räuberisches Sonderrecht‘?

Woher kommt der Begriff der Privatisierung? Er stammt vom lateinischen „privare“ und hat etymologisch zwei wesentliche Bedeutungen: Zum einen meint er ‚absondern‘ und zum anderen ‚rauben‘ (Kasten 1 „Privat“).

Der Zusammenhang wird deutlich, wenn man den Gegenbegriff „öffentlich“ mitdenkt: Denn gegenüber der Öffentlichkeit handelt es sich um einen privaten Bereich, der abgesondert, dem öffentlichen Zugriff entzogen und damit gleichsam der öffentlichen Nutzung ‚beraubt‘ ist – wie etwa ein privater oder privatisierter Park, der nur eine privilegierte bzw. exklusive Nutzung von wenigen offen zulässt. Mit einer Perspektive auf Bildung als öffentliches Gut – gleichgültig, ob als räumliche, dingliche, zeitliche, finanzielle, soziale oder kulturelle Ressource – ist ein gesellschaftlicher Anspruch auf einen in jeder Hinsicht ‚barrierefreien‘ Zugang zu dieser Ressource verbunden, der politisch sicherzustellen ist. Dennoch werden von staatlicher Seite vor allem Praktiken der Vermarktlichung vorangetrieben, für die der expandierende Privatschulsektor oder die Aufhebung von festen Schuleinzugsbezirken (Schulsprengel) seit den 2000er-Jahren wichtige Indizien sind, deren Einführung im Weimarer Schulkompromiss (1919) seinerzeit die soziale Durchmischung in Schulen gewährleisten sollte.

Kasten 1 „Privat“

„privat Adj. ‚persönlich, vertraulich, nicht amtlich, nicht öffentlich, einem oder mehreren einzelnen gehörend, nicht staatlich‘, Entlehnung (16. Jh.) aus gleichbed. lat. prīvātus, eigentlich ‚(der Herrschaft, Amtsgewalt) beraubt, (vom Staat, von der Öffentlichkeit) abgesondert‘, dem Part. adj. von lat. prīvāre ‚berauben, befreien, (ab)sondern‘; vgl. lat. prīvus ‚für sich bestehend, einzeln, eigen(tümlich), einer Sache beraubt“ (https://www.dwds.de/wb/privat#etymwb-1)

Stattdessen wird auf Quasi-Märkte (Eltern-/Schulwahl) im schulischen Feld gesetzt, welche die soziale Segmentierung verstärken, bei der zwar nicht Bildung allgemein, sondern qualitativ ‚hochwertige‘ Bildung in guten, erfolgreichen und reputierlichen Schulen wieder zu einem quasi-feudalen Privileg wird.

Dies zeigt, dass die Privatisierung zugleich eine ökonomische wie auch soziale ‚Absonderung‘ bedeutet, die mit der Etablierung und politischen Legitimation von Bildungsprivilegien als Vor- bzw. Sonderrechten einhergeht – und dies trotz des sogn. Sonderungsverbotes des Grundgesetzes (Art. 7, Abs. 4). Danach ist es verfassungsrechtlich möglich, Privatschulen zu gründen, dies jedoch nur dann, wenn „eine Sonderung der Schüler nach Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird“. In einer empirischen Untersuchung konnten Michael Wrase und Marcel Helbig hingegen zeigen, in welch eklatanter Weise Bundesländer das Sonderungsverbot unterlaufen bzw. missachten (Wrase/Helbig 2016, s. Kasten 3: Fallbeispiel „Zur politischen Praxis des Sonderungsverbots“). Damit wird genau das durch Nicht-Handeln staatlicher Verwaltungen auf Länderebene bewirkt, was ursprünglich verhindert werden sollte, nämlich die soziale Segregation und Entmischung der SchülerInnenpopulation nach sozioökonomischen Verhältnissen.

Zudem geht mit diesem politischen Ignorieren bestehender Verfassungsrechte eine schleichende Privilegierung bildungsbeflissener Milieus einher, die über ihre sozioökonomisch starke Position hinaus Bildung auch als Kampfplatz für soziale Vorteile nutzen können. Nicht umsonst wird entweder eine „Restauration alter Privilegierungsformen“ (Vester 2014: 243) bzw. Refeudalisierung (Höhne 2021: 37 f.) oder eine Durchsetzung neuer „Privilegien“ (Walgenbach 2017) festgestellt (Kasten 2: „Privileg“).

Kasten 2: „Die Etymologie von Privileg“

„Privileg Privilegium n. ‚Vorrecht, Sonder-, Ausnahmerecht‘ (einer Einzelperson, einer bestimmten Klasse, Schicht oder Gruppe von Menschen), mhd. prīvilēgje, prīvilei(g)e, prīvilēgjum (13. Jh.), vom 15. Jh. an meist in lat. Form Privilegium (bis ins 19. Jh.), daneben Privilegi(e) (14. bis Anfang 17. Jh.); die eingedeutschte Form Privileg setzt sich erst im 19. Jh. durch, doch der Plur. Privilegien seit dem 14. Jh. Entlehnt aus lat. prīvilēgium ‚besondere (nur eine einzelne Person betreffende) Verordnung, Ausnahmegesetz, Vorrecht, Vorzugsrecht‘, einer Bildung aus lat. prīvus ‚für sich bestehend, einzeln, eigen(tümlich)‘ (s. privat) und lat. lēx (Genitiv lēgis) ‚Gesetz, Verordnung‘. Vgl. afrz. privilegie, priviliege, frz. privilège m. – privilegieren Vb. ‚mit einem Vorrecht oder mit Vorrechten ausstatten, von einer Verpflichtung, einer Abgabe befreien, durch Vorzugsrecht, Vorrecht schützen‘ (um 1400), vgl. mhd. prīvilēgen (13. Jh.); mlat. privilegiare ‚ein Vorrecht einräumen‘, afrz. privilegier.“ (https://www.dwds.de/wb/etymwb/Privileg, „Privileg“, in: Wolfgang Pfeifer et al., Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, https://www.dwds.de/wb/etymwb/Privileg, abgerufen am 06.09.2022)

4.2 Unterschiedliche Formen von Privatisierung

Grundsätzlich werden mehrere Privatisierungsformen wie formelle Privatisierung oder Organisationsprivatisierung (Umwandlung in eine AG, GmbH), funktionale Privatisierung (Contracting-out, Auslagerung) und materielle Privatisierung (Aufgabenprivatisierung mit Anteilsveräußerung an private Unternehmen (Saalfrank 2005: 71ff.; Höhne 2012: 800 f.) unterschieden. Von Privatisierung kann in einer erweiterten Definition bereits mit der Privatisierung unterschiedlicher Steuerungsmittel oder der Einführung managerialer Elemente wie erfolgsabhängiger Vergütung gesprochen werden (Jansen/Priddat 2007: 25).

Kasten 3: Endogene und exogene Privatisierung

Endogene Privatisierungsformen beinhalten nach Ball/Youdell „den Import von Ideen, Techniken und Praktiken aus dem privaten Sektor, um den öffentlichen Sektor eher wie ein Unternehmen und mehr wie ein Unternehmen zu gestalten“, während exogene Privatisierung „die Öffnung der öffentlichen Bildungsdienste für den Privatsektor“ ermöglichen soll, die „auf gewinnorientierter Basis und unter Nutzung des privaten Sektors die Gestaltung, Verwaltung oder Durchführung von Aspekten der öffentlichen Bildung“ übernehmen (Ball/Youdell 2007: 8f.). Sie betonen, dass „weltweit Formen der Privatisierung in unsere öffentlichen Bildungssysteme eingeführt“ werden und „viele der Veränderungen das Ergebnis einer gezielten Politik, oft unter dem Motto ‚Bildungsreform‘“ (ebd.: 3) sind. Ihre „Auswirkungen können weitreichend sein für die Bildung der Schüler, für Gerechtigkeit, für die Bedingungen der Lehrer und des sonstigen Bildungspersonals. Andere Änderungen können unangekündigt eingeführt werden: Änderungen in der Art, wie Schulen geführt werden, die als ‚mit der Zeit Schritt halten‘ dargestellt werden können, aber in Wirklichkeit eine zunehmend marktwirtschaftliche, wettbewerbsorientierte und konsumorientierte Ausrichtung unserer Gesellschaften widerspiegeln. In beiden Fällen ist der Trend zur Privatisierung des öffentlichen Bildungswesens verborgen. Sie wird durch die Sprache der ‚Bildungsreform‘ getarnt oder heimlich als ‚Modernisierung‘ eingeführt“ (ebd.: 3, Höhne 2019).

In diesem erweiterten begrifflichen Rahmen beinhaltet dies ein weites Spektrum von Privatisierungsformen und damit ein weites „Güterspektrum“ (ebd.), das über die Unterscheidung von privat/öffentlich (= staatlich) oder gewinnorientiert/nicht-gewinnorientiert (= privat) hinausgeht. Dies ist nicht nur angesichts der Entwicklung von öffentlichen Gütern zu „Hybridformen“, d.h. der „privaten Ko-Produktion öffentlicher Güter“ (ebd.), sowie der zunehmenden Bedeutung gerade von nicht gewinnorientierten, aber privaten Organisationen (i. e. vor allem Stiftungen) bei der Leistungserbringung öffentlicher Dienstleistungen von zentraler Bedeutung (Höhne/Schreck 2009, Bank 2007), sondern auch, weil Bildungsorganisationen sich historisch als Teil eines umfassenderen Systems sozialer Sicherungssysteme entwickelt haben und ähnliche Privatisierungstendenzen in unterschiedlichen sozialpolitischen Bereichen wie Gesundheit, Sozialversicherung und Altersvorsorge zu beobachten sind.

Historisch sowie systematisch ist es also notwendig, „Privatisierung in einem weiteren Sinne“ zu definieren (Klausenitzer 2004: 151), sie nicht nur an formalen Rechts- und Eigentumsformen festzumachen. So können explizite Märkte von sogenannten Quasi-Märkten unterschieden werden (Weiss 2001), mit denen wettbewerbs- und effizienzsteigernde (Steuerungs-)Mittel im Bildungs- und Sozialbereich auf der Ebene von Handlungen, Praktiken und Programmen eingeführt werden, die nachhaltig entsprechende Formen institutioneller Ökonomisierung befördern. Stephen Ball und Deborah Youdell sprechen im selben Sinne von endogener Privatisierung – im Unterschied zu exogenen, d. h. expliziten, Privatisierungsformen –, die sich auf „importing ideas, techniques and practices from the private sector in order to make the public sector more like businesses and more business-like“ beziehen (Ball/Youdell 2008: 9f.). Diese Form der Bildungsprivatisierung ist weltweit beobachtbar (ebd., vgl. Kasten 3 „Endogene und exogene Privatisierung“). Für Ökonomisierungsformen im Hochschulbereich hat Uwe Schimank seinerseits verschiedene „Grade der Ökonomisierung“ unterschieden, wodurch der autonome Kern graduell durch verminderte Zahlungsfähigkeit über Sparzwänge bis hin zur expliziten Gewinnerzielung schrittweise ökonomisiert werden kann (Schimank 2008: 630).

4.3 Finanzielle Entmachtung des Staates und weltweite Stärkung des privaten Kapitals

Gemäß einem „Bericht zur weltweiten Ungleichheit 2018“ ist „Hauptursache der ökonomischen Ungleichheit die ungleiche Verteilung von Kapital, das sich entweder in privater oder in öffentlicher Hand befinden kann“ (Alvaredo et al. 2018: 10). Es zeigt sich, „dass seit 1980 in fast allen Ländern – reiche Industrieländer genauso wie Schwellenländer – riesige Mengen an öffentlichem Vermögen in private Hände transferiert wurden. Während das Volksvermögen also stark gestiegen ist, liegt das öffentliche Vermögen in den reichen Ländern nahe Null oder im negativen Bereich. Dadurch verringert sich der Spielraum der Regierungen, der Ungleichheit entgegenzuwirken; in jedem Fall hat es wichtige Implikationen im Hinblick auf die Vermögensungleichheit zwischen Individuen“ (ebd.). Und weiter heißt es:

„Die privaten Nettovermögen sind in den letzten Jahrzehnten allgemein gewachsen, von 200­-350% des Nationaleinkommens in den meisten reichen Ländern im Jahr 1970 auf heute 400­700%. Diese Entwicklung wurde durch die Finanzkrise von 2008 oder durch die aufgeblähten Preise für Vermögenswerte, die in einigen Ländern wie Japan oder Spanien zu beobachten waren, kaum beeinträchtigt (ebd. 11). Umgekehrt ist das öffentliche Nettovermögen (d.h. die öffentlichen Vermögenswerte abzüglich der Staatsschulden) seit den 1980er Jahren in fast allen Ländern gesunken. In China und Russland sank das öffentliche Vermögen von 60­70% des Nationalvermögens auf 20­-30%. In Großbritannien und den USA ist das öffentliche Nettovermögen in den letzten Jahren sogar in den negativen Bereich abgerutscht; in Japan, Deutschland und Frankreich ist es nur leicht positiv. Dadurch haben die Regierungen weniger Spielraum zur Regulierung der Wirtschaft, zur Umverteilung von Einkommen und zur Bekämpfung der wachsenden Ungleichheit.“ (ebd.: 11f.)

Die beiden folgenden Statistiken zeigen, in welch immensem Ausmaß privates Kapital von 1970–2016 gegenüber öffentlichem zugenommen hat und letzteres komplementär dazu gesunken ist (Abb. 1 + 2):

Abb. 1: Zunahme des privaten Kapitals und Abnahme des öffentlichen Kapitals in reichen Ländern (1970–2020), Ungleichheitsbericht 2022

Zunahme des privaten Kapitals und Abnahme des öffentlichen Kapitals in reichen Ländern (1980-2020) Ungleichheitsbericht 2022
Quelle: Chancel et al. 2022: 77

Abb. 2: Abnahme des öffentlichen Wohlstands in reichen Ländern und Entwicklungsländern (1980-2020)

Abnahme des öffentlichen Wohlstands in reichen Ländern und Entwicklungsländern (1980-2020). Weltungleichheitsbreicht.
Quelle: Chancel et al. 2022: 79

Ökonomisierung durch veränderte Finanzierung im Elementarbereich

Johanna Mierendorf verdeutlicht, dass – im Unterschied zur Schule – der Elementarbereich immer eine plurale Trägerstruktur beinhaltet hat und durch neue Finanzierungsformen (pro Kopf-Finanzierung) ökonomisierende Elemente eingeführt wurden.

© 2024 FernUniversität in Hagen. Alle Rechte vorbehalten.

Auto-Transkript herunterladen

4.4 Vermarktlichung durch Quasi-Märkte und Polarisierungen in der Schullandschaft

Weltweit gibt es kein rein privates oder ausschließlich über einen preisbasierten Markt organisiertes Schulsystem (Weiß 2001: 70; Sackmann 2004), sondern nur Mischformen von öffentlichen und privaten Schulen. Vermarktlichung ist nicht zuletzt in Deutschland aufgrund des Sonderungsverbotes im GG (Art. 7, Abs. 4) an staatliche Vorgaben und Regulation geknüpft. Insofern sind nicht bekannte preisbasierte vollkommene Märkte im Schulbereich möglich, sondern Quasi-Märkte, die ein „hybrides Steuerungssystem“ beinhalten, in denen „marktwirtschaftliche und staatlich bürokratische Steuerungselemente kombiniert“ (Weiß 2001: 70) werden. So finden sich im Rahmen politischer Vorgaben auch marktförmige Strukturen wie Angebot/Nachfrage (Elternwahl, Privatschulangebote), systematischer Wettbewerb und preisanaloge Signale (z.B. Abiturdurchschnittsnote von Schulen) für die Eltern als potenzielle KundInnen. Insofern werden die Ergebnisse von Leistungsvergleichen, Evaluationen, Rankings oder die durchschnittliche Abiturquote – ähnlich dem Aktienkurs eines Unternehmens für potenzielle AnlegerInnen – zu Informationen für Eltern, anhand derer sie ihre Schulwahl am ‚Schulmarkt‘ treffen. Schulen wiederum kalkulieren mit dem Setzen von ‚Preissignalen‘, indem sie sichtbar ihren Output einer Schule oder die Einzigartigkeit ihres Profils (technische Ausstattung) im Schulprogramm demonstrieren und damit ihren ‚unique selling point‘ den Eltern als potenziellen KundInnen offerieren. So wird ein Markt symbolisch-kognitiv nur über das Wissen bzw. die Information der MarktteilnehmerInnen realisiert  (Czada  2007), ohne dass es direkt um geldwerten Tausch oder Preise (Kauf durch Zahlung) ginge. Der Preis wird über besagte ‚Signale‘ symbolisch angezeigt und ‚die Ware‘ (= gute Bildung, hochwertige Abschlüsse, reputierliche Schulen usw.) zugleich symbolisch sowie ökonomisch getauscht, wenn Eltern für hochpreisige und renommierte Privatschulen zum Teil hohe Summen bezahlen. Ökonomisches Kapital stellt also nur eine von mehreren Tausch- und Kapitalformen auf politisch regulierten Quasi-Märkten dar. Neben Wissen (kulturelles Kapital) stellen auch soziale Beziehungen und Netzwerke (soziales Kapital) wichtige Ressourcen im Wettbewerb um Bildungsvorteile dar.

Quasi-Märkte

Christina Gericke erläutert, was Quasi-Märkte im Schulbereich sind und welche Merkmale eine wettbewerbs- und marktgetriebenen Umgestaltung der Schullandschaft auszeichnet.

© 2024 FernUniversität in Hagen. Alle Rechte vorbehalten.

Auto-Transkript herunterladen

Schulseitig ist eine gewisse Autonomie eine weitere Voraussetzung, um Marktstrukturen zu realisieren, bei denen sie  als Anbieter von ‚Bildungsdienstleistungen‘ auftreten können, denen Eltern auf der NachfragerInnenseite gegenüberstehen. Damit werden marktförmige Angebots-Nachfragestrukturen etabliert, die Wahlentscheidungen durch die Akteure erfordern – ob sie wollen oder nicht.  Marktstrukturen  dieser Art  können legitimerweise nur staatlich und bildungspolitisch in Form der erweiterten Schulautonomie und der Auflösung von festen Schuleinzugsbestimmungen (Schulsprengel) hergestellt werden. Wesentliche Elemente eines Quasi-Marktes sind also: Die Mobilisierung eines Nachfragepotenzials (Eltern, Studierende), die Ermöglichung einer Anbieterautonomie (Schulautonomie), die  Etablierung eines Sanktionssystems (Budgetierung,  Abstimmung der KundInnen ‚mit den Füßen‘) und die Schaffung eines entsprechenden „Informationssystems“ wie Rankings,  Evaluationsberichten oder Schulprogrammen, die für Markttransparenz sorgen (Weiß 2001: 71 f.).

‚Schulautonomie‘ als Reformstrategie

Christina Gericke zeichnet die politische Initiative für Schulautonomie seit den 1990er Jahren nach, deren wesentliche programmatischen Impulse von einer Bildungskommission und einem Gutachten in Nordrhein Westfalen Mitte der 1990er Jahre gekommen sind. Am Tisch saßen nicht nur PolitikerInnen und WissenschaftlerInnen, sondern u.a. auch Reinhard Mohn, seines Zeichends Chef der  Bertelsmann-AG sowie der Stiftung.

© 2024 FernUniversität in Hagen. Alle Rechte vorbehalten.

Auto-Transkript herunterladen

PISA bildete einen Anlass für die systematische Schaffung eines Quasi-Marktes im bundesdeutschen Schulsystem, da die Forderungen nach einem international vergleichbaren leistungsstarken Schulsystem lauter wurden. Quasi-Märkte existierten zu diesem Zeitpunkt vor allem in englischsprachigen Ländern seit etwa zwei Jahrzehnten – mit ambivalenten Erfahrungen, wie empirische Studien belegen (Radtke/Weiß 2000). Ein Effekt des beiderseitigen Wettbewerbs – auf Seiten der Schulen um die besten SchülerInnen und auf Elternseite um die besten Schulen –  ist die verstärkte Polarisierung in starke/schwache Schulen und GewinnerInnen/VerliererInnen in der SchülerInnenpopulation, d.h. die Erhöhung sozialer und Bildungsungleichheit. Erklärt wird dies sozialraumtheoretisch mit einer sozialen und schulischen „Passung“ (Kramer/Helsper 2011), die durch die Schulwahl ermöglicht wird: Denn Schule und Schulprofil auf der einen Seite und der soziale Habitus ‚bildungsnaher/-ferner‘ Eltern auf der anderen Seite finden sich gleichsam in einem Prozess gegenseitiger Selektion, bei der – salopp gesprochen – nicht jeder Deckel auf jeden Topf passt. Zu welchen sozialen Verwerfungen auch schon Quasi-Märkte führen können, zeigt die Tatsache, in welch nachhaltiger Weise Eltern unter Druck bei der Schulwahl geraten können (Kasten 4: Fallbeispiel „Eltern unter Entscheidungsdruck“) – im Kontrast zur schönen neuen Welt der Schulmärkte und der Entscheidungsfreiheit (Abb. 3).

Kasten 4: Fallbeispiel „Eltern unter Entscheidungsdruck“

In der Studie „Eltern unter Druck“ wurde herausgearbeitet, welche negativen Effekte Schulwahlentscheidungen haben können: „In Abhängigkeit von der Lebenswelt der Eltern mit ihren jeweils milieu- und kulturspezifischen Ausprägungen existiert gleichermaßen ein unterschiedliches Verständnis von Bildung und der Notwendigkeit von Bildung, aber auch von Erziehungszielen und -stilen. Zu beobachten ist, dass sich in den jeweiligen Milieus einander fremde Sinn- und Wertehorizonte entwickeln, die unter dem Druck verstärkter Anforderungen an Bildung, Erziehung und Beruf in einer Wissensgesellschaft weiter auseinanderklaffen. So beobachten wir in den letzten Jahren ein deutliches Auseinanderdriften der Milieus sowohl in räumlicher als auch interkultureller Hinsicht. Deutschland scheint auf dem Weg in eine neue Art von Klassengesellschaft zu sein, wobei die Trennungslinie eben nicht nur über Einkommen und Vermögen, sondern auch über kulturelle Dimensionen, wie etwa Bildungskapital und Bildungsaspirationen, aber auch über Werte und Alltagsästhetik verläuft. Ebenso erweisen sich Ernährung, Gesundheit, Kleidung und Medienumgang als Abgrenzungsfaktoren. Der Zulauf zu privaten Schulen ebenso wie das Umzugsverhalten von Eltern der Bürgerlichen Mitte geben ein beredtes Zeugnis dieser Entwicklung: Spätestens bei den eigenen Kindern hört üblicherweise die Toleranz auf. So ziehen Eltern mit ihren Kindern aus Wohnvierteln weg, die keinen ausgeglichenen Anteil von Angehörigen ihres eigenen bürgerlichen Milieus haben, was zu einer erheblichen Entmischung von Stadtteilen führt. Da Eltern wissen, wie entscheidend der Einfluss des Umfeldes für die Entwicklung des Kindes in den ersten Jahren ist, ist ihre Vermeidungslogik höchst rational. Neu an dieser Entwicklung ist, dass nicht mehr nur Akademikerfamilien, sondern bereits die Eltern der breiten Mittelschicht sich massiver nach unten abgrenzen.

In sozialpolitischer Hinsicht ist diese Entwicklung problematisch für die gesellschaftliche Solidarität. Gerade Eltern der Bürgerlichen Mitte sehen sich unter enormem Druck und solidarisieren sich gegen Milieus am unteren Rand der Gesellschaft. Kinder der Bürgerlichen Mitte haben heute kaum mehr Kontakt zu Kindern unterer Schichten. Sie sammeln somit keine gemeinsamen Erfahrungen, lernen nicht, wie man dort miteinander kommuniziert und welche Werte, Ziele und Sorgen dort bestehen. Vor diesem Hintergrund kann sich Empathie als Grundlage für Solidarität nur schwerlich entwickeln“ (Henry-Huthmacher 2008: 7f.).

Abb. 3 Bildungsmarkt

Es wird eine gezeichnete Karikatur von Plassman gezeigt. Ein Mann steht mit einem Jungen ein einem Verkaufstresen. Hinter dem Tresen ist ein Schild mit der Aufschrift: „Bildungsmarkt. Herzlich willkommen.“ Angeboten werden Papiere verschiedener Schultypen: „Ganztägig + Mehr“, „International School“, „Quinoa-Schule“, „Phorms Education“, „Internat“, Solide Grundbildung“, „Abitur Garantiert“ und „Beste Schule“. Ebenso steht ein Verkäufer hinter dem Tresen, und auf dem Tresen steht eine Kasse. An der Schaufensterscheibe hängt ein Plakat: „Top Seller. Beste“.
Quelle: Thomas Plaßmann

Fallbeispiel: Wie das Sonderungsverbot im Privatschulbereich bildungspolitisch unterlaufen wird

Gemäß Art. 7 Abs. 4 Satz 3 GG gibt es ein grundgesetzlich festgelegtes Sonderungsverbot für Privatschulen, nach dem kein paralleles und vom staatlich-öffentlichen Schulsystem komplett abgesondertes Schulsystem (z.B. mit eigenen rechtlichen und curricularen Privilegien ausgestattet) bestehen darf. Privatschulen bedürfen der Anerkennung durch den Staat und kommen dann auch in den Genuss öffentlicher Förderungen. Aber: Im Zuge bildungspolitischer Deregulierungen wie der Abschaffung fester Schuleinzugsbezirke (‚Schulsprengel‘) und der Schaffung von Quasi-Märkten im Rahmen der Bildungsreform nach PISA hat sich realpolitisch eine Praxis der Relativierung bzw. Neutralisierung des Sonderungsverbotes auf kommunaler Ebene entwickelt, was eine Untersuchung belegen konnte (s. Kasten 5: Fallbeispiel „Zur politischen Praxis des Sonderungsverbots“).

Kasten 5: Fallbeispiel „Zur politischen Praxis des Sonderungsverbots“

„Das sogenannte Sonderungsverbot des Art. 7 Abs. 4 Satz 3 GG hat (…) eine besondere Funktion. Es statuiert eine verfassungsunmittelbare Schranke der freien Schülerauswahl durch die Ersatzschulen. Es soll die Entstehung von sozial abgeschotteten Eliten- oder Standesschulen unterbinden und ist in diesem Sinne – wie das Bundesverfassungsgericht betont – ‚strikt‘ zu beachten. Dabei gibt es eine klare höchstrichterliche Rechtsprechung und einen weitgehenden Konsens über das grundsätzliche Verständnis des Sonderungsverbots“. Hingegen zeigt sich, „dass es in nahezu allen Bundesländern an einer Konkretisierung des Sonderungsverbots auf gesetzlicher Ebene fehlt und dass die von den Ministerien und Schulaufsichtsbehörden angewendeten Kriterien sehr weit differieren, wenn sie nicht gänzlich fehlen. Die von den Ministerien festgelegten Vorgaben werden zudem in der Praxis selten wirksam kontrolliert. So kommt es – entgegen der klaren Intention des Grundgesetzes – vor allem in sozialen Ballungsräumen, insbesondere den Großstädten, zu einem sozial hochselektiven Zugang an einigen Privatschulen“. Bezogen auf Berlin und Hessen etwa hat sich herausgestellt, „dass der Berliner Senat Kriterien für die Einhaltung des Sonderungsverbots entwickelt hat, die auf rechtlich ungesicherter Grundlage beruhen und in der Praxis weder von der Mehrzahl der Schulen beachtet noch von der Senatsverwaltung effektiv kontrolliert werden. Damit im Zusammenhang steht eine soziale Entmischung an den privaten Ersatzschulen. Und für Hessen wird deutlich, „dass das vollständige Fehlen einheitlicher Kriterien zur Einhaltung des Art. 7 Abs. 4 Satz 3 GG zu einer faktischen Nicht-Kontrolle des Verfassungsgebots führt“ (Wrase/Jung/Helbig 2017: 3ff.).

Quasi-Märkte im Elementarbereich und die Reproduktion sozialer Ungleichheit

Thomas Grunau und Johanna Mierendorf diskutieren die Vermarktlichung und die sogn. „Quasi-Märkte“ im Elementarbereich, auf denen durch Wettbewerb der Kitas untereinander Bildungeinrichtungen differenziert nach dem sozialen Status der Eltern angeboten bzw. ausgewählt werden. Die sozial selektive „Passung“ von Milieu und Einrichtung wird durch die Marktlogik der beiderseitigen Wahlentscheidung verstärkt: Begüterte Eltern wählen eine Einrichtung mit hohem symbolischen Kapital (‚guter Ruf‘, exklusive Angebote) wie auch Kitas die Kinder aus ‚passenden‘, sprich privilegierten Milieus auswählen. Insofern wird bereits auf den Quasi-Märkten im Elementarbereich der frühkindlicher Bildung soziale Ungleichheit reproduziert.

© 2024 FernUniversität in Hagen. Alle Rechte vorbehalten.

Auto-Transkript herunterladen