Einleitung
Mit zunehmender Prominenz der Globalisierungsthematik in Wissenschaft und Forschung wächst die Aufmerksamkeit für Prozesse transnationaler Anpassung unter Loslösung von nationalen Traditionen. Die Durchsetzung eines globalen Bildungsmodells, das sich verstärkt auf ein Ideal lebenslanger Chancengleichheit, aber ebenso auf eine Strukturierung des Bildungswesens durch ökonomische Logiken verlagert, ist ein solcher Prozess. Der Neoinstitutionalismus gehört zu den prominenten Ansätzen, um diesen Prozess globaler Angleichung systematisch und historisch zu untersuchen. Hierbei geht er u.a. von der Kernthese aus, dass nationalstaatliche Anpassungen weniger als eine Rationalisierung von Normen und Standards anzusehen sind, die ‚Irrationalitäten’ (wie etwa die systematische Privilegierung einzelner Gruppen oder aber romantische Bildungsideale) überwinden helfen sollen, sondern dass die globale Durchsetzung konvergenter Standards vor allem auf normativen Druck oder unhinterfragte Nachahmung von Organisationen oder Staaten zurückzuführen sind. Damit bezieht sich der Neoinstitutionalismus primär auf die Frage nach Legitimitäten bzw. der Frage nationaler bildungspolitischer Entscheidungslogiken in Zeiten globaler Normengenerierung. Konvergenz trägt daher (nicht nur im Bildungsbereich) seit den 1990er Jahren in entscheidender Weise zur Durchsetzung von Reform ‚von oben’ bei, gleichzeitig wird diese jedoch durch die Annahme einer vermeintlich freiwillig-rationalen Anpassung verschleiert. Die Bedeutung des Neoninstitutionalismus für eine kritische Perspektive auf Ökonomisierungsprozesse leitet sich aus dem Set an analytischen Begriffen ab, die der Ansatz liefert sowie aus den empirischen Forschungen zu weltweiten Konvergenzprozessen, die dazu vorlegt wurden. Besondere Prominenz erlangten hierbei die Texte von John Meyer, John Boli, Francisco Ramirez u.a. (2005), die die These der globalen, auf dem europäischen Christentum sowie dem angloamerikanischen Liberalismus basierenden „Weltkultur“ ausarbeiteten und mit zahlreichen Fallstudien zu belegen versuchten.
Grundbegriffe des Neoinstitutionalismus
Der Neoinstitutionalismus schließt insofern an dem klassischen Institutionalismus an, als dass er nach kulturellen Konstrukten von Akteuren, Mythen oder legitimen Modellen fragt und dabei die Rolle der globalen Ebene beziehungsweise ihres Verhältnisses zur Ebene des Nationalstaates betont. Der Ansatz rückt dabei sowohl a) inhaltliche (Leitbilder, Ideologien) als auch b) prozessuale (Mechanismen) Aspekte globaler Anpassung in den Fokus:
a) Bezüglich der inhaltlichen Dimension wendet der Neoinstitutionalismus ein Institutionenverständnis an, bei dem verstärkt Elemente und Aspekte in den Blick geraten, die jenseits formal gesicherter, rationaler Regeln wirken. Dazu gehört an erster Stelle die Konstruktion von Legitimität. Es geht also um vorbewußte, vorrationale Wissens-, Entscheidungs- und Handlungsprozesse (Hasse/Krücken 1999, Meyer/Rowan 1977, für entsprechende Modelle siehe beispielsweise Jepperson 1991, Scott 2001), also um die Untersuchung eingefahrener und nicht mehr hinterfragter Routinen, diskursiv nicht weiter problematisierter Implikationen und Normen sowie verdichteter Machtverhältnisse, die sich innerhalb von Organisationen oder Institutionsgefügen eingespielt und verfestigt haben. Entsprechend wird die weltweite Duchsetzung scheinbar rationaler Prinzipien etwa als Glaube an Effizienzsteigerung und damit als Mythos interpretiert. Dieser Effizienzmythos kann Reformen schließlich unabhängig von den tatsächlichen Abläufen und Wirkungen legitimieren und durchsetzen (vgl. Meyer/ Rowan 1977: 41ff.). Mit der Dominanz rationalistischer Prinzipien werden entsprechend Individualismus, Standardisierung sowie Universalismus als legitime Steuerungsprinzipien unterschiedlicher Gesellschaftsbereiche durchgesetzt.
b) Zwei Mechanismen sind bei den Prozessen von Angleichung und Standardisierung entscheidend: Zum einen die sogenannte „autorisierte Agentenschaft” (Meyer/Jepperson 2005: 50, kursiv S.H.), beispielsweise von internationalen Nicht-Regierungsorganisationen, die mittels Verweis auf universelle Ziele (Wohlstandswachstum für alle, Leistungsgerechtigkeit etc.) eine globale Standardisierung in sämtlichen Lebensbereichen vorantreiben und den Staat zum Adressaten ihrer Politik machen (vgl. Loya/Boli 1999: 169ff). Internationale Organisationen wie die OECD oder die WTO werden in diesem Sinne zu Trägern der Weltkultur und konstruieren wiederum neue Träger („Agenten”), sobald sie den Staat zum Verantwortlichen machen, die universalen Ziele über konkrete Reform zu implementieren. Mit jeder Stufe der Reform ‚nach unten’ werden wiederum neue Agenten autorisiert, die Reform in ihrem (Bundesland-, regionalen, lokalen, institutionellen) Zusammenhang umzusetzen. Das Ergebnis ist eine interdependente Verantwortungskaskade, in der sich die Beteiligten ‚freiwillig’ den Regeln eines Verantwortungs- und Rechenschaftsregimes unterwerfen (Accountability).
Zum anderen wirkt ein Mechanismus, der mit dem Terminus Isomorphie, also Anpassung oder Gleichförmigkeit in verschiedenen organisationalen Feldern, beschrieben wird (DiMaggio/Powell 1983). Steuerungstechniken wie etwa das Benchmarking oder Rankings erzeugen einen solchen Anpassungsdruck und forcieren Isomorphie. Die Anpassung betrifft zunächst die Formalstruktur, also das, was eine Institution, eine Organisation oder ein Staat nach außen hin zeigt und wodurch sie/er sich Legitimität verleiht. Davon zu unterscheiden ist das, was tatsächlich, das heißt auf der sogenannten Aktivitätsebene passiert. Nicht selten folgt einem raschen Isomorphismus eine Entkopplung dieser beiden Ebenen (Meyer/Rowan 1977: 55ff, Powell 1991: 187f). Damit kann der Neoinstitutionalismus schließlich auch Prozesse des (unsichtbaren) Nicht-Anpassens erklären, die als Anomalie gedeutet werden (Meyer/Hannan 1979). Beide Mechanismen wirken von global bis lokal bzw. bis auf die Ebene des Individuums.
Grenzen des Neoinstitutionalismus
Mit der Annahme einer globalen Durchsetzung von Standards und Modellen top-down stoßen wir hier gleichzeitig auf eines der Grundprobleme des Neoinstitutionalismus. Denn die in den nationalen Konfigurationen teilweise grundlegend unterschiedliche Implementation der propagierten normativen Vorstellungen (wie etwa die der autonomen Schule) geht oftmals über das hinaus, was sich mit dem Begriff der Entkopplung von Formal- und Aktivitätsstruktur oder Anomalie fassen lässt. Es müssen vielmehr weitere Vermittlungsmechanismen, Agenten/Akteure des Wandels und nationalspezifische Konstellationen berücksichtigt werden (Ball 2007/2010), die im lokalen Zusammenhang dafür sorgen, dass die weltkulturelle Anpassung so und nicht anders stattfindet (Hartong 2012). Den institutionellen Pfadabhängigkeiten kommt im Weltkulturansatz eine eher marginale Bedeutung zu, da eine globale Anpassung festgestellt wird, die über (noch) vorhandene Differenzen hinausreicht bzw. diese eliminiert. Die Ungleichheitskomponente wird hingegen weitestgehend ausgeblendet (vgl. Greve/Heintz 2005: 101ff, auch Adick 2009). Die Grundthese einer „downward causation” (Greve/Heintz 2005: 109) mittels übergeordneter Strukturen birgt am Ende jedoch die Gefahr einer (einseitigen) Fokussierung auf Anpassungstendenzen. Diese Schwierigkeiten beziehungsweise Grenzen des Neoinstitutionalismus werden zunehmend erkannt und kritisch diskutiert (Überblick siehe Koch/Schemmann 2009). Dennoch darf die Nachhaltigkeit globaler Isomorphie auch und gerade für nationale Bildungssysteme seit den 1990er Jahren nicht unterschätzt werden.
Globale Angleichungsprozesse im Bildungsbereich
Unter Berücksichtigung seiner Analysegrenzen eignet sich der Neoinstitutionalismus in besonderem Maße, um die Verbreitung der rationalistischen Weltkultur im Bildungsbereich nachzuvollziehen:
„Ein dichtes Netzwerk internationaler Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen […] erarbeitet klare Definitionen der Probleme, deren Lösung Bildung ist, und der Typen von Bildung, die dafür am besten geeignet sind“ (Meyer/Ramirez 2005: 220).
Entlang der Legitimations- und Organisationsprinzipien Leistung und Egalität wird über die Implementation offener Koordinierungsmethoden (Monitoring, Benchmarking, Beratung) eine einheitliche Strukturierung von Bildungssystemen verbreitet, was zu einer weltweiten Angleichung der Bildungsstandards und -abschlüsse sowie zu einer Gleichheit der durch Bildung vermittelten Definition von ‚Welt’ führt (vgl. Meyer/Ramirez 2005: 229, Meyer 1999: 127 ff). Hierin zeigt sich die vom Weltkultur-Ansatz stark gemachte Wirkmächtigkeit kultureller Faktoren für die globale Transformation von Bildungssystemen, die mit den ökonomischen Veränderungsformen einhergehen, ohne dass sich ein eindeutiges Determinationsverhältnis zwischen Kultur und Ökonomie ausmachen ließe. Für die zunehmende Wirkung der Mythen Rationalisierung, Standardisierung, Individualisierung und Universalisierung lassen sich im Bildungsbereich zahlreiche Beispiele finden. So verbreitet sich beispielsweise die von Akteuren wie der OECD propagierte Idee autonomer Schulen global, ohne dass jemals der Beweis eines tatsächlichen Effizienzgewinns erbracht wurde (siehe auch Drori et al. 2003). Das Rationalitätsversprechen einer Kompatibilität mit der Weltkultur reicht aus, um den Siegeszug dieses Schulmodells zu ermöglichen (Schaefers 2009). Das gleiche gilt für die fieberhafte Ausarbeitung nationaler Bildungsstandards, die anhand detaillierter Kriterien der Messbarkeit entwickelt und durch Assessment-Systeme überwacht werden. Maßstab hierfür bilden sogenannte „Wachstumsmodelle”, die vor allem in den USA zur detaillierten Kontrolle der Leistungszunahme einzelner Schüler_innen im Reformverlauf verwendet werden. All diese Ansätze werden zunächst mittels freiwilliger Anpassung mit dem Politikziel Lebenslanges Lernen (Jakobi/Martens 2007) verbreitet – erst später zeigen sich die tatsächlichen Effekte, wenn beispielsweise schulische Gelder oder Curricula an das Korsett der Weltkultur gekoppelt werden oder wenn das propagierte Ziel einer Verringerung sozialstruktureller Ungleichheit (wie etwa bei No Child Left Behind in den USA) weit verfehlt bzw. systematische Benachteiligung sogar verschlimmert wird.
Potential des Neoinstitutionalismus
Eine konstruktivistische Perspektive auf Denk- und Weltvorstellungen, wie sie der Neoinstitutionalismus anwendet, ist von höchster Bedeutung, will man Ökonomisierung von Bildung als institutionellen Wandel im Schulfeld nachvollziehbar machen und dabei der globalen Ebene die notwendige Beachtung schenken. Die Perspektive lenkt die Aufmerksamkeit auf Mechanismen globaler Politikkonvergenz jenseits rationalistisch motivierter Entscheidungen sowie auf die spezifische Rolle von Trägerakteuren und von Gefügen scheinbar freiwilliger Verantwortungsübernahme. Das tatsächliche Ausmaß der Diffusion von Weltkultur im jeweiligen Zusammenhang lässt sich jedoch nur erfassen, wenn das Instrumentarium des Neoinstitutionalismus erweitert oder ergänzt wird. Dass der Neoinstitutionalismus einseitig auf die kulturellen Faktoren globaler Isomorphie fokussiert, macht seine Stärke und Schwäche zugleich aus. Denn er weist auf der einen Seite die kulturelle Dimension globaler Transformationen nach, die wiederum fälschlich als primär ökonomieinduziert gedeutet werden könnten. Damit treten die Formen der Überzeugungen der Individuen, institutionell verankerte Glaubensysteme (Mythen) und damit Wissen und Diskurse als Untersuchungsgegenstand in den Vordergrund. Auf der anderen Seite stellt seine Blindheit gegenüber der ökonomischen Dimension globaler Transformationen ein Problem insofern dar, als seien Analysen zu kulturalistischen Vereinseitigungen neigen. Analog zu Karl Polanyis Erkenntnis der sozialen Einbettung augenscheinlich rein ökonomischer Transformationen kann man also die Verquickung sozialer, kultureller und ökonomischer Gründe für die umfassenden Veränderungen nationaler Bildungssysteme annehmen.
Sigrid Hartong
Literatur
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